Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
wartet bestimmt schon auf meinen Beitrag zum Kirchenblatt. Seit uns der Bischof als Ersatz für unseren Hektografen, der sich in den Ruhestand verabschiedet hat, seinen ausgedienten Matrizendrucker gespendet hat, entwickelt sich meine Gattin zur reinsten Kassandra.«
Kassandra? War das eine unbeabsichtigte Anspielung auf den Geist von Cassandra Cottlestone, dessen plötzliches Auftauchen womöglich für Cynthias Nervenzusammenbruch verantwortlich war? Die einzige andere Cassandra, die mir einfiel, war das Pseudonym eines gewissen William Soundso, mit dem er seine bisweilen skandalträchtige Kolumne im Daily Mirror unterzeichnete.
»Es ist nämlich wie bei der Times« , fuhr der Vikar fort, »Cynthias Seiten werden stets vor Mitternacht zu Bett gebracht.«
Ich traute meinen Ohren nicht! Was redete der Mann da für einen Unsinn?
» › Quer durch des Vikars Gemüsebeet ‹ habe ich meinen Beitrag getauft. Da hat die Gemeinde dann die Woche über dran zu knabbern, haha! Ich dachte mir, mit Ungezwungenheit richtet man manchmal mehr aus als mit … ach herrje! Cynthia wird mich tüchtig ausschimpfen!«
Ausschimpfen?
Das Letzte, was ich über Cynthia Richardson gehört hatte, war, dass ihr Dr. Darby eine Beruhigungsspritze geben musste, weil der Geist von Cassandra Cottlestone sie zu Tode erschreckt hatte.
Entweder war das nur der übliche Dorfklatsch gewesen, oder der Vikar wollte ihren Zustand vertuschen. Cynthia konnte ja wohl kaum von Chloralhydrat benebelt sein und gleichzeitig das Kirchenblatt durch den Matrizendrucker nudeln. Das war chemisch betrachtet reiner Blödsinn.
»Ich hätte gedacht, dass Sie einen Nachruf auf Mr. Collicutt bringen«, sagte Miss Tanty mit einem scheelen Seitenblick in Richtung des Vikars.
Wie bitte?
Vorhin hatte sie mich noch ermahnt, meine Blumen nicht zu vergeuden, und jetzt flehte sie praktisch auf Knien darum, dass Mr. Collicutt eine fette Schlagzeile im Kirchenblatt bekam?
Verstehe einer die Erwachsenen!
Ich muss allerdings zugeben, dass ich selbst schon fast nicht mehr an Mr. Collicutt gedacht hatte. Als Entdeckerin seiner Leiche fühlte ich mich ihm gegenüber zwar irgendwie verpflichtet, aber unter den gegebenen Umständen kam ich einfach nicht dazu, mich ausführlicher mit ihm zu befassen.
Wenn ich wieder zu Hause war, würde ich in meinem Notizbuch eine neue Seite aufschlagen und das Für und Wider des verstorbenen Mr. C. auflisten. Zunächst einmal musste ich jedoch Miss Tanty aushorchen. Schließlich war sie diejenige, die zuletzt mit dem Toten verabredet gewesen war.
Ich würde ihr bestimmt genug Tratsch entlocken können, dass es auch den abgebrühtesten Londoner Klatschreporter schockiert hätte! Aber dafür musste ich sie erst einmal von Adam und dem Vikar weglocken.
»Tja, also …«, wandte sich der Vikar an Miss Tanty, »Sie müssen mich jetzt wirklich entschuldigen.« Damit drehte er sich um und ging langsam in Richtung Tür.
Vor meinem geistigen Auge erschien das Bild eines müden Feldarbeiters, der sich auf den beschwerlichen Heimweg machte.
»Sowerby! Blut!«, rief Meg. Während die anderen noch schwatzten, hatte sie sich wieder zwischen die dunklen Bank-reihen geduckt und winkte uns jetzt mit ungewaschenem Zeigefinger heran.
Adam ging zu ihr, und ich folgte ihm. Miss Tanty schloss sich uns an.
Auch der Vikar blieb stehen und drehte sich um.
Nie werde ich diesen Augenblick vergessen. Er ist mir so unauslöschlich im Gedächtnis wie das Bild auf einer heiß geliebten Weihnachtskarte: Wir drei – Adam, Miss Tanty und ich – beugen uns wie die Heiligen Drei Könige vor einer geschnitzten Krippe über die am Boden kauernde Meg, während der Vikar im fernen Feld des Mittelgangs über seine nächtliche Herde wacht.
»Blut!«, wiederholte Meg und blickte Bestätigung heischend zu uns auf, während sie den Finger auf den Boden stieß.
Auf den Steinfliesen vor ihren Füßen war eine rote Pfütze.
»Das Blut der Heiligen und Propheten«, sagte sie auf einmal ganz sachlich.
In meiner Erinnerung stehen wir alle wie versteinert da, obwohl wir uns garantiert die Hälse verrenkt und gedrängelt haben, um besser sehen zu können.
Meg wiederum hockt, da sie uns endlich überzeugt hat, zufrieden neben der Pfütze und blickt zu unseren bestürzten Gesichtern empor.
»Zum Trinken«, fügt sie erklärend an.
Ein Sonnenstrahl kämpft sich durch das Buntglas und lässt die Pfütze aufleuchten.
Ein neuer Tropfen fällt herab, landet mit einem hörbaren Plopp und
Weitere Kostenlose Bücher