Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
schob mich um den Tresen herum und streckte den Kopf durch die Tür.
Überall im Garten lagen leere Holzkisten herum. Ein rötlich verfärbter Baumstumpf diente offensichtlich als zusätzlicher Hackklotz, dessen Opfer sich aus den Hühnerställen dahinter rekrutierten.
Während ich noch unschlüssig dastand, trat eine kleine Frau in Rock und Bluse aus dem größten Hühnerstall. Sie trug ein Tuch um den Kopf und hielt eine große braune Henne an den Beinen.
Der Vogel hing zappelnd mit dem Kopf nach unten und flatterte verzweifelt mit den kurzen Flügeln.
Die Frau legte ihn mit dem Hals auf den Hackklotz, griff nach dem Beil … und sah mich in der offenen Tür stehen.
»Komme gleich«, sagte sie. »Geh wieder rein.«
Ihr dürrer, nackter Arm holte mit der blitzenden Klinge aus.
»Nicht!«, hörte ich mich sagen. »Bitte …«
Die Frau blickte auf, die Axt noch erhoben.
»Ich möchte das Huhn kaufen, aber bitte lebendig.«
Was in aller Welt war in mich gefahren? Tote Menschen machten mir überhaupt nichts aus – ehrlich gesagt, fand ich sie eher spannend –, aber ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass anderen Lebewesen etwas angetan wurde.
Dabei war es noch nicht allzu lange her, dass mich in unserem Dorf ein tobsüchtiger Hahn angefallen hatte, doch trotz dieses blutigen Zusammenstoßes verspürte ich in diesem Augenblick den Wunsch, meine schützenden Flügel über alle Hühner dieser Welt zu breiten. Ein äußerst befremdliches Gefühl.
»Lebendig …«, wiederholte ich. In meinem Kopf drehte sich alles wie ein riesiger Kreisel.
Die Frau legte das Beil weg und ließ das Huhn los. Es flog – es flog tatsächlich! – quer über den Hof, brachte eine halbwegs geglückte Landung zustande und pickte dann in der festgetretenen Erde herum, als sei überhaupt nichts vorgefallen. Dieses Huhn würde auch morgen noch fröhlich gackern.
Ich hatte zum allerersten Mal jemandem das Leben gerettet.
Gibt es für Hühner ein Leben nach dem Tod?, überlegte ich. In Anbetracht der Axt, des anschließenden Rupfens, des Überbrühens, des Backofens und unserer gierig knabbernden Zähne beim Sonntagsmahl eher unwahrscheinlich.
Trotzdem … vielleicht gab es irgendwo hinter dem blauen Himmel dort oben ja doch eine himmlische Hühnerstange.
»Ich bin leider ohne mein Portemonnaie aus dem Haus gegangen«, sagte ich. »Ich bringe Ihnen das Geld demnächst vorbei.«
»Du bist wohl nicht von hier, was?«
»Nein, aber unser Dorf liegt ganz in der Nähe.« Ich deutete unbestimmt nach Norden.
»Hab ich dich nicht schon mal gesehen?« Sie beugte sich vor und schaute mir ins Gesicht.
Plötzlich hatte ich eine geradezu geniale Eingebung: Sag einfach die Wahrheit! Ja, ich würde die Wahrheit sagen. Was konnte schon passieren?
»Kann gut sein. Ich heiße Flavia de Luce.«
»Ich hätt’s mir denken können. Diese blauen Augen und …«
Sie verstummte, als sei sie mit voller Wucht vor eine Mauer gelaufen.
»Und?«
»Wir haben früher Geflügel nach Buckshaw geliefert«, sagte sie langsam. »An Mrs. Mullet. Aber die ist bestimmt längst nicht mehr da.«
»Doch, sie arbeitet immer noch bei uns.«
Mit kaum merklicher Verzögerung setzte ich hinzu: »Zum Glück.«
»Aber das ist schon viele Jahre her«, fuhr die Frau fort. »Viele Jahre. Das war noch, bevor … Und was führt dich zu uns nach Nether-Wolsey?«
»Ich suche eine Frau namens Hetty. Wie sie mit Nachnamen heißt, weiß ich nicht, aber sie ist …«
»… Patsy Pickerys Schwester.«
Patsy? Hieß Miss Pickery wirklich »Patsy« mit Vornamen?
Ich musste mich schwer beherrschen, um nicht laut loszuprusten.
»Ja«, sagte ich. »Genau die. Patsy Pickerys Schwester.«
Ich ließ mir den Namen auf der Zunge zergehen, die Silben fröhlich über meine Zungenspitze hüpfen: »Pat-sy Pick-erys Schwes-ter.«
»Die ist weg«, lautete die Antwort. »Und die Kinder auch. Sie hat gleich gegenüber gewohnt, neben der Tankstelle. Aber Rory hat sie einmal zu oft mit dem Gürtel verdroschen, da hat sie die Kinder geschnappt und … Was wolltest du denn von ihr?«
»Ich wollte sie etwas fragen.«
»Vielleicht kann ich dir ja weiterhelfen.«
»Es geht um Bogmore Hall.« Das Gesicht der Frau verschloss sich, noch ehe ich den Satz beendet hatte.
»Bleib da bloß weg!«, raunte sie warnend. »Das ist kein Ort für jemanden wie dich.«
Jemanden wie mich? Wie meinte sie das?
»Ich muss unbedingt mit Mr. Ridley-Smith sprechen, dem Richter.«
»Hast wohl was ausgefressen,
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