Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
dieses Schloss eingebaut hatte, wollte ungebetene Besucher fernhalten.
Aber warum lag der Schlüssel dann einfach unter einem Blumentopf, wo ihn jeder an sich nehmen konnte?
Ich schob ihn geräuschlos ins Schloss, drehte ihn um und schlüpfte ins Haus.
Die Küche war ein düsteres Gelass, in das nur aus einem einzigen, hoch oben angebrachten Fenster spärliches Licht fiel. Mit ihrem grauen Schieferboden erinnerte sie an eine Gefängniszelle.
Im Herd brannte kein Wärme und Behaglichkeit spendendes Feuer. Es war so kalt und klamm, dass ich fröstelnd die Strickjacke um mich zog.
Eine breite Tür, die offensichtlich dazu gedacht war, das benötigte Zeug für ganze Festgelage hindurchkarren zu können – Wildschweinköpfe und so weiter –, führte in einen kurzen Flur und dann, nach links, in ein Frühstückszimmer, in dem für zwei Leute schon teilweise gedeckt war: Messer, Gabeln, Löffel und Eierbecher. Da ist wohl jemand schon für morgen gerüstet, dachte ich.
Ich schlich weiter bis in die halbdunkle Eingangshalle: gesprungene Fliesen, dunkle Porträts miesepetriger alter Männer mit Richterperücken auf dem Kopf und ein schwacher Geruch nach Räucherhering. Eine Standuhr tickte zermürbend, als zählte sie die Sekunden bis zu einer Hinrichtung. Vielleicht der meinen.
Was, wenn mich hier jemand erwischte? Sollte ich behaupten, ich hätte aus einem der oberen Fenster Rauch dringen sehen? In diesem Fall hätte ich ja wohl eher die Bewohner warnen oder gleich draußen losschreien müssen.
Und wie war ich so schnell an den Schlüssel herangekommen?
Vielleicht musste ich ja dringend telefonieren. Vielleicht war mir beim Radfahren der Blutdruck weggesackt, sodass mir fürchterlich schwindelig war. Vielleicht brauchte ich ja dringend einen Arzt.
Eine Glocke schlug – dann noch eine! Die Töne hallten schauerlich in der weitläufigen Halle nach. Jetzt hatte ich tatsächlich Herzrasen. Hatte ich einen verborgenen Alarm ausgelöst? Was Einbrecher betraf, hatte so eine alteingesessene Richterfamilie bestimmt Vorkehrungen getroffen.
Aber nein, es war bloß die blöde Standuhr, die in der Ecke vor sich hingongte, um sich in dem leeren Haus die Zeit zu vertreiben.
Ich warf einen Blick in ein, zwei andere Zimmer, die alle ähnlich aussahen: hohe Decken, kahle Böden, so gut wie keine Möbel und die hohen, vorhanglosen Fenster, die mir schon von draußen aufgefallen waren.
Das ganze Erdgeschoss vermittelte den unmissverständlichen Eindruck, dass sich hier niemand aufhielt. Nach einer Weile ging ich so unbefangen umher, als sei ich hier zu Hause.
Billardzimmer, Tanzsaal, Salon, Bibliothek – allesamt so kalt wie längst verglommene Asche. In einem kleinen dunklen Arbeitszimmer stapelten sich Unterlagen und Akten bis unter die Decke. Die untersten Akten waren aus dickem Pergament, die oberen aus vergilbtem Papier.
Geologische Schichten fremder Leben …, ging es mir durch den Kopf, die zu Stapeln getürmt auf den Richterspruch warten. Oder ihn bereits empfangen haben. In wie vielen dieser Millionen von Dokumenten mag wohl der Name de Luce mit Tinte auf den staubigen Seiten vermerkt stehen?
Ich musste niesen. Eine Diele knarrte.
War da jemand?
Nein. Zumindest nicht in diesem Raum. Es war nur der Aktenstapel in der Ecke gewesen, der es sich noch etwas gemütlicher gemacht hatte.
Ich kehrte in die Eingangshalle zurück. Im ganzen Haus ist es so still wie in einem Grab , dachte ich schaudernd.
»Hallo?«, rief ich. Meine Stimme hallte wie in einer Höhle.
Ich spürte, dass niemand antworten würde, und so war es auch.
Trotzdem war jemand im Haus. Das bleiche Gesicht, das sich von dem Fenster im ersten Stock entfernt hatte, war ja wohl kaum meiner Fantasie entsprungen.
Vielleicht gehörte es einem Zimmermädchen, das sich nicht hervortraute, weil es sich ganz allein hier aufhielt. Oder war es etwa der Geist jenes Zimmermädchens gewesen, das von Anthea Ridley-Smiths Krokodil verspeist worden war? Oder das durchsichtige Gespenst des gläsernen Lionel Ridley-Smith?
Wer oder was es auch gewesen sein mochte – es wartete oben auf mich.
Ich überlegte kurz, ob es nicht klüger sei, schleunigst das Weite zu suchen. – Ja, allerdings.
Doch dann fiel mir wieder ein, wie Marmaduke Parr den Vikar schikaniert hatte und wie enttäuscht ganz Bishop’s Lacey und vor allem ich selbst sein würde, wenn wir die Gebeine unseres Heiligen nicht zu seinem 500-Jährigen würden präsentieren können.
Womöglich würde ich
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