Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
erzeugt winzige, kreisrunde Wellen auf der roten Oberfläche.
Meg weist mit dem knochigen Finger nach oben zum Dachstuhl, dessen dunkle Balken wie die Dielen des Paradieses über unseren Köpfen schweben.
Das geschnitzte Antlitz des heiligen Tankred schaut auf uns herunter, und der nächste rote Tropfen fällt in unsere Mitte.
Und der nächste.
»Alter Mann weint«, sagt Meg schlicht.
10
S eltsamerweise war Miss Tanty die Erste, die wieder zur Besinnung kam. Für ihr Alter erstaunlich gelenkig, kniete sie sich hin und tunkte den Zeigefinger in die rote Flüssigkeit.
Dann bekreuzigte sie sich, berührte mit dem Finger erst die Stirn und dann die Brust. Der rote Fleck auf dem Kragen geht bestimmt nicht mehr raus, schoss es mir durch den Kopf.
»Vergib mir, o Herr«, sagte sie, faltete die Hände unter dem Kinn und starrte wieder wie verzückt zu dem bunten Kaleidoskop hinauf, aus dem sich das Haupt Johannes des Täufers zusammensetzte.
Adam holte ein weißes Stofftaschentuch aus der Jackentasche und tauchte einen Zipfel in die rubinrote Flüssigkeit. Nachdem er sich den getränkten Zipfel erst ausgiebig betrachtet hatte, streckte er die Zungenspitze heraus und leckte vorsichtig daran.
Warum nicht?, dachte ich. Wenn schon alle anderen davon kosten …
Ich griff nach meinem noch unversehrten Zopf, löste die Schleife und tauchte sie im selben Augenblick in die sich ausbreitende Pfütze, als der nächste Tropfen vom Gesicht des Heiligen herabfiel.
Adam fing meinen Blick auf. Seine Miene verriet alles und nichts, sie war wie ein unsichtbares Augenzwinkern.
Ich glaube nicht, dass der Vikar irgendetwas von all dem mitbekam. Er brauchte ewig, um sich umständlich seitwärts durch die lange Bankreihe zu schieben, aber schließlich stand er zwischen Adam und mir und betrachtete wortlos die blutige Bescherung auf dem Boden.
Was soll ich jetzt damit machen?, muss er gedacht haben. Wen verständigt man, wenn ein geschnitzter Heiliger in einer abgelegenen Dorfkirche auf einmal blutige Tränen weint? Die Polizei? Den Erzbischof? Oder die Sensationspresse?
»Flavia, sei so gut«, sagte er und legte mir die zitternde Hand auf die Schulter, »lauf doch bitte nach draußen und hol Sergeant Graves, ja?«
Mein Gesicht wurde schlagartig glühend heiß, und in meinem Kopf staute sich ein Druck auf wie in einem Vulkankrater kurz vor dem Ausbrechen.
Warum taten mir die Leute das immer wieder an? Warum kommandierten sie mich herum, als wäre ich so etwas wie eine Kammerzofe für besondere Notfälle?
Ich zählte bis elf. Nein, bis zwölf.
»Mach ich, Herr Vikar«, sagte ich dann und verkniff mir den Rest. Erst als ich schon fast draußen war, setzte ich mit gesenkter Stimme hinzu: »Und wenn ich schon unterwegs bin, soll ich Ihnen dann gleich noch eine Tasse Tee und einen Keks mitbringen?«
Sergeant Graves war nirgends zu sehen. Auch der blaue Vauxhall war verschwunden, was darauf hindeutete, dass die Polizei alles erledigt hatte, was sie erledigen wollte.
Also darum hatte mich der Sergeant in die Kirche gelassen! Die List mit den »Blumen für den Altar« hätte ich mir sparen können. Auch Meg war ungehindert hereingekommen und hatte sogar die Tür zugeschlagen, ohne dass irgendein Dorfpolizist auch nur die Stirn gerunzelt hätte.
Ich hätte es mir denken können. Die Beamten waren schon im Abrücken begriffen gewesen, und jetzt waren sie weg.
Eigentlich auch wieder schade. Offen gestanden hatte ich mich schon darauf gefreut, meine alte Bekanntschaft mit Inspektor Hewitt zu erneuern. Der Inspektor und ich unterhielten derzeit eine sozusagen lauwarme Beziehung (nicht vergessen: Herkunft des Wörtchens »lau« nachschlagen. Biblisch vielleicht?). Zu den besten Stellen in der Bibel gehört meiner Meinung nach jene aus der Offenbarung: Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Ob meine Beziehung zu dem Inspektor gerade warm oder kalt war, hing jeweils von Antigone ab, der anbetungswürdigen Frau des Inspektors. Noch hatte ich nicht alle Mechanismen unserer recht wackligen Dreiecksbeziehung ausgelotet, aber das lag bestimmt nicht daran, dass ich es nicht versucht hätte.
Nicht nur einmal hatte ich die Nähe dieser warmherzigen und zugleich unterkühlten Göttin gesucht, in der Hoffnung, sie würde …
Ja, was eigentlich? Mir schwören, dass sie meine allerbeste Freundin und innigste Vertraute sein würde, bis ans Ende der Welt und aller Tage, Amen?
Irgendwie schon. Leider
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