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Flavia de Luce - Mord im Gurkenbeet - The Sweetness at the Bottom of the Pie

Titel: Flavia de Luce - Mord im Gurkenbeet - The Sweetness at the Bottom of the Pie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
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stand ich auf einer noch kleineren, noch wackligeren Plattform. Die nächste Leiter war schmaler als die vorigen, die Sprossen dünner, und sie wackelte heftig, als ich den Fuß daraufsetzte und langsam hochstieg, beziehungsweise hochkroch. Auf halbem Weg fing ich wieder an zu zählen: »Zehn (schätzungsweise)… elf … zwölf … dreizehn …«
    Dann knallte mein Kopf gegen etwas Hartes, und ich sah lauter um mich herumwirbelnde Sternchen. Ich klammerte mich an den Sprossen fest, mein Kopf schien geplatzt zu sein wie eine Melone, und die streichholzdünne Leiter vibrierte unter meinen Fingern wie eine gezupfte Violinensaite. Es fühlte sich an, als hätte mich jemand skalpiert.

    Als ich die Hand ausstreckte und über meinen geschundenen Schädel tastete, streifte ich einen Holzgriff. Ich drückte mit letzter Kraft dagegen, und die Luke klappte auf.
    Im Nu war ich auf das Turmdach hinausgeklettert, wo ich wie eine Eule in die ungewohnte Helligkeit blinzelte. Von einer viereckigen Plattform in der Mitte fielen die Schieferziegel nach allen vier Himmelsrichtungen sanft ab.
    Die Aussicht war atemberaubend. Auf der anderen Seite des Vierecks, jenseits des Ziegeldachs der Kapelle, erstreckten sich die unterschiedlichsten Grüntöne bis zum dunstigen Horizont.
    Immer noch blinzelnd, trat ich ein bisschen näher an die Brüstung und hätte mir beinahe das Genick gebrochen.
    Ein gähnendes Loch klaffte zu meinen Füßen, und ich musste tüchtig mit den Armen rudern, um nicht hineinzufallen. Taumelnd erhaschte ich einen Blick auf das Pflaster, das in schwindelerregender Tiefe schwärzlich in der Sonne glänzte.
    Die Öffnung war vielleicht dreißig Zentimeter breit und hatte eine ungefähr einen Zentimeter hohe Einfassung. Alle drei Meter wurde sie von einem schmalen, gemauerten Steg überbrückt, der die vorkragende Brüstung mit dem Dach verband. Das Ganze sollte offenbar bei starkem Regen das Wasser zügig vom Turmdach ableiten.
    Ich holte tief Luft, sprang mit einem Satz über die Öffnung und schaute über die hüfthohe Brüstung. Unter mir lag der Hof.
    Da er bis an das Gebäude heranreichte, war der gepflasterte Weg neben der Hauswand gerade noch zu erkennen. Merkwürdig, dachte ich. Wenn Mr Twining hier von der Brüstung gesprungen war, hätte er eigentlich nur im Gras landen können.
    Es sei denn, der Hof wäre in den dreißig Jahren seit Mr Twinings Tod einschneidenden architektonischen Eingriffen unterworfen gewesen. Ein zweiter Blick durch die Öffnung hinter
mir ließ mich zu dem Schluss kommen, dass dem nicht so sein konnte. Das Pflaster und die Lindenbäume waren uralt. Mr Twining musste durch diese Öffnung gestürzt sein.
    Da vernahm ich hinter mir ein Geräusch. Ich fuhr herum. Mitten auf dem Dach baumelte ein Erhängter an einem Galgen! Ich musste mich schwer zusammenreißen, um nicht loszuschreien.
    Der Leichnam schaukelte und drehte sich im auffrischenden Wind wie der gefesselte Kadaver eines hingerichteten Straßenräubers, wie ich ihn auf einer Abbildung im Almanach des Gefängnisses von Newgate gesehen hatte. Dann barst ohne jede Vorwarnung sein Bauch und sein Gedärm quoll als roter, wei ßer und blauer Strang heraus.
    Die Eingeweide entrollten sich flatternd und kurz darauf knatterte hoch über mir an der Spitze eines Fahnenmastes der gute alte Union Jack im Wind.
    Als ich mich von meinem Schreck erholt hatte, sah ich, dass die Flagge von unten, wahrscheinlich von der Pförtnerloge aus, mithilfe einer ausgetüftelten Anordnung aus Seilen und Flaschenzügen auf- und eingezogen werden konnte. Die Segeltuchhülle der Fahne mitsamt dem Mast hatte ich für einen Gehenkten am Galgen gehalten.
    Ich grinste betreten und schob mich vorsichtig an den Mechanismus heran, um ihn näher in Augenschein zu nehmen. Aber abgesehen von der genialen Konstruktion gab es nichts Spannendes zu entdecken.
    Als ich eben wieder der gähnenden Öffnung zustrebte, rutschte ich aus und fiel der Länge nach hin, wobei mein Kopf bis über den schwindelerregenden Abgrund hinausragte.
    Auch wenn ich mir jeden Knochen im Leib gebrochen hätte, hätte ich nicht gewagt, mich aufzurichten. Eine Million Meilen unter mir, so kam es mir jedenfalls vor, kamen zwei ameisengroße Gestalten aus dem Anson House und gingen quer über den Hof.

    Mein erster Gedanke war, dass ich noch am Leben war. Aber sobald ich mich wieder gefasst hatte, wurde ich wütend. Ich ärgerte mich darüber, dass ich so dämlich und unbeholfen war, ärgerte mich

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