Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Flavia de Luce - Mord im Gurkenbeet - The Sweetness at the Bottom of the Pie

Titel: Flavia de Luce - Mord im Gurkenbeet - The Sweetness at the Bottom of the Pie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
Vom Netzwerk:
»Vermisst.«
    Vermisst? Warum hing Vaters Bild nicht auch hier?
    Vater war für gewöhnlich so abwesend, dass er genauso gut als »vermisst« hätte gelten können wie diese jungen Männer, deren Gebeine irgendwo in Frankreich lagen. Bei diesem Gedanken verspürte ich zwar einen Anflug von schlechtem Gewissen, aber es stimmte dennoch.
    Ich glaube, es war dort, in dem düsteren Flur in Vaters ehemaligem Internat, dass mir so richtig bewusst wurde, wie ungeheuer verschlossen Vater eigentlich war. Gestern hätte ich ihn liebend gern umarmt und so fest gedrückt, dass ihm die Luft weggeblieben wäre. Jetzt jedoch begriff ich, dass die trauliche
Gefängnisszene vom Vortag kein Zwiegespräch gewesen war, sondern ein qualvoller Monolog. Vater hatte sich nicht mir anvertraut, sondern Harriet, und wie bei dem sterbenden Horace Bonepenny war ich nicht mehr als ein zufälliger Beichtvater gewesen.
    Jetzt, hier in Greyminster, an jenem Ort, an dem Vaters Kummer seinen Anfang genommen hatte, kam mir diese Umgebung umso kälter, abweisender und ungastlicher vor.
    Hinter den Fotos führte eine Treppe in den ersten Stock. Ich ging hinauf und stand im nächsten langen Flur, der sich wie der im Erdgeschoss über die ganze Länge des Gebäudes erstreckte. Obwohl die Türen zu beiden Seiten geschlossen waren, konnte man durch kleine Scheiben einen Blick in die Räume dahinter werfen. Es waren lauter Klassenzimmer, und sie sahen alle gleich aus.
    Das große Eckzimmer am Ende des Korridors sah da schon vielversprechender aus. Auf dem Schild an der Tür stand: Chemieraum.
    Ich drückte auf die Klinke, und die Tür ging sofort auf. Der böse Bann war gebrochen!
    Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber das jedenfalls nicht: fleckige Holztische, nichtssagende Bechergläser, blinde Destillierkolben, angestoßene Reagenzgläser, verschmutzte Bunsenbrenner und an der Wand eine bunte Tabelle mit den Elementen und einem blödsinnigen Druckfehler, durch den Arsen und Selen vertauscht waren. Es fiel mir sofort auf. Darum holte ich ein Stück blaue Kreide von der Tafelablage und nahm mir die Freiheit, den Fehler zu korrigieren, indem ich einen Pfeil malte, der in zwei Richtungen zeigte. »Falsch!« , schrieb ich darunter und unterstrich es zweimal.
    Das sogenannte Labor war ein Witz im Vergleich zu dem, was mir auf Buckshaw zur Verfügung stand. Ein Gedanke, bei dem mir vor Stolz die Brust schwoll. Am liebsten wäre ich auf der Stelle nach Hause geradelt, um mich an meinem Labor zu
erfreuen, meine blitzblanken Glasbehälter anzufassen und rein zum Spaß ein tödliches Gift zusammenzumischen.
    Aber diese Freuden mussten warten. Ich hatte hier noch einiges zu erledigen.
    Ich verließ das Labor und ging den Flur wieder zurück, bis ich ungefähr in der Mitte angelangt war. Wenn ich mich nicht irrte, musste ich mich hier direkt unter dem Turm befinden. Von hier aus musste es einfach einen Zugang geben.
    Eine kleine Tür in der Holzvertäfelung, hinter der ich zuerst eine Besenkammer vermutet hatte, gab den Weg zu einer Treppe frei. Mein Herz schlug höher.
    Dann sah ich das Schild. Auf Höhe der ersten Stufen war eine Kette quer über die Treppe gespannt. Daran hing ein handbeschriftetes Pappschild mit dem Hinweis: Zutritt zum Turm strengstens verboten.
    Ich duckte mich blitzschnell darunter hindurch.
    Es war wie im Gehäuse eines Einsiedlerkrebses. Die Treppe vollführte eine enge, eintönige Windung nach der anderen. Weder sah man, was vor einem, noch was hinter einem lag, man konnte immer nur die paar Stufen gleich über und unter sich erkennen.
    Eine Zeit lang zählte ich flüsternd mit, aber irgendwann sah ich ein, dass ich meine Puste brauchte, um meine Beine mit Sauerstoff zu versorgen. Es ging steil aufwärts, und bald bekam ich Seitenstechen. Darum legte ich eine kurze Verschnaufpause ein.
    Nur durch die kleinen Fensterschlitze, die jeweils auf einer vollen Wendelung der Treppe angebracht waren, fiel spärliches Licht. Auf dieser Seite des Turmes vermutete ich auch den Innenhof. Immer noch halbwegs außer Puste, nahm ich mein Gekraxel wieder auf.
    Dann war die Treppe unvermittelt zu Ende, und zwar vor einer niedrigen, halbrunden Tür.
    Ich dachte unwillkürlich an die kleinen Türen im Märchen,
durch die ein Zwerg in einer hohlen Eiche verschwindet. Die Tür hatte ein großes Schlüsselloch für einen langen Bartschlüssel und war - wie hätte es auch anders sein können - abgeschlossen.
    Ich schnaufte enttäuscht und hockte mich schwer

Weitere Kostenlose Bücher