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Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - Bradley, A: Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - The Weed that strings the Hangman's Bag

Titel: Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - Bradley, A: Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - The Weed that strings the Hangman's Bag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
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Summen der Bienen vor den obersten Fenstern des Taubenschlags, das von dem leeren Gemäuer absurd verstärkt wurde.
    »Hab keine Angst«, rief ich. »Ich komme hoch.«
    Stück für Stück, Schrittchen für Schrittchen, machte ich mich an den heiklen Aufstieg. Abermals kam ich mir vor wie Jack, der dieses Mal jedoch an der Bohnenranke hinaufkletterte. Ich zog mich Zentimeter um Zentimeter weiter nach oben, um mich dem unbekannten Grauen zu stellen. Die Trittstufen knarrten bedenklich. Mir war bewusst, dass sie jeden Augenblick durchbrechen konnten, worauf ich mir auf den Steinfliesen tief unter mir das Genick brechen würde, so ähnlich, wie der Riese - und Rupert - auf die Puppenbühne hinuntergekracht waren.
    Der Aufstieg wollte kein Ende nehmen. Ich hielt an und spitzte wieder die Ohren. Noch immer war bis auf die Bienen nichts zu hören.
    Immer höher ging es. Ich erklomm eine Sprosse nach der anderen und klammerte mich mit den Händen, die allmählich taub wurden, an die Sprossen darüber.
    Schließlich waren meine Augen auf gleicher Höhe mit der großen Nische, und ich konnte hineinschauen. Jemand hockte zusammengekauert vor dem Schrein für Robin Ingleby - der gleiche Jemand, der aus dem Haus geflohen war.
    Die kleine Gestalt im weißblauen Matrosenanzug mit breitem Kragen und kurzen Hosen lag auf den Knien und wandte mir den Rücken zu. Die Waffelsohlen der Gummistiefel waren so dicht vor meinem Gesicht, dass ich sie hätte anfassen können.
    Auf einmal fingen meine Knie an, heftig zu zittern; ich fürchtete, in den Abgrund zu stürzen.

    »Hilf mir!«, sagte ich. Es kam einfach aus mir heraus, mir selbst unerklärlich und völlig überraschend, ausgelöst von einem uralten und immer noch reptilienhaften Winkel meines Gehirns.
    Eine Hand streckte sich mir entgegen, bleiche Finger ergriffen die meinen und zogen mich mit erstaunlicher Kraft hoch. Schon hockte ich, außer Gefahr, aber noch zitternd, der Spukgestalt gegenüber.
    Auch wenn der weiße Matrosenanzug mit seiner mit Krone und Anker bedruckten Jacke und die Gummistiefel zweifellos dem toten Robin Ingleby gehörten, war das verhärmte Gesicht, das mich unter der mit Bändern verzierten Mütze der HMS Hood anstarrte, eindeutig das seiner Mutter Grace.
    »Sie!«, entfuhr es mir. »Sie waren das!«
    Ihr Gesicht war traurig und auf einmal uralt. Man konnte sich nur schwer vorstellen, dass in dieser Frau noch ein einziges Atom von Grace Tennyson übrig war, jener fröhlichen, geselligen jungen Frau, die früher so beherzt die drahtigen Innereien von Peter dem Großen, dem silbernen Samowar der St.-Nicholas-Teestube, bezwungen hatte.
    »Mein Robin ist nicht mehr«, sagte sie hüstelnd. »Der Teufel hat ihn geholt.«
    Der Teufel hat ihn geholt! Fast die gleiche Formulierung, die die verrückte Meg im Gibbet Wood benutzt hatte.
    »Und wer war der Teufel, Mrs Ingleby? Erst dachte ich, es sei Rupert gewesen, aber das stimmt nicht. Sie waren es selbst, hab ich recht, Mrs Ingleby?«
    »Jetzt ist Rupert tot«, sagte sie und hielt sich den Kopf, als sei sie verwirrt.
    »Ja«, bestätigte ich, »Rupert ist tot. Er war der Kasperlespieler am Strand, stimmt’s? Sie waren dort mit ihm verabredet, und Robin hat Sie beide zusammen gesehen. Sie hatten Angst, dass er es Gordon erzählt.«
    Sie lächelte listig.

    »Am Strand?« Sie hüstelte kichernd. »Nein, nein, nicht am Strand. Hier … im Taubenschlag.«
    Tatsächlich hatte ich schon überlegt, ob die Fußabdrücke - die einzigen, die man vor fünf Jahren gefunden hatte und die vom Ablassfeld zum Gibbet Wood hinaufgeführt hatten - womöglich von Grace Ingleby stammten, die den toten Robin in den Armen trug. Damit nur seine Spuren zurückblieben, hatte sie die Gummistiefel ihres Sohnes angezogen. Schließlich hatten beide dieselbe Schuhgröße. Wie zum Beweis meiner Vermutung trug sie die Stiefel auch jetzt.
    Fünf Jahre nach seinem Tod zog sie immer noch Robins Sachen an, versuchte verzweifelt ihren Sohn wiederauferstehen zu lassen. Oder aber ihre Tat zu sühnen.
    »Sie haben ihren Sohn in den Wald getragen und aufgehängt. Aber Robin ist hier gestorben, nicht wahr? Deshalb haben Sie hier einen Altar für ihn errichtet und nicht in seinem Zimmer.«
    Wie sachlich sich diese albtraumhafte Unterhaltung mit einer Geisteskranken gestaltete! Falls ich hinterher lebendig zu Hause ankommen würde, brauchte ich erst mal ein ausgiebiges heißes Bad.
    »Ich hab ihm gesagt, er soll unten bleiben«, erwiderte Grace ärgerlich.

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