Flehende Leidenschaft
Ostflügel.
In der Tür blieben sie stehen und beobachteten die fröhliche Schar. Nur zwei Generationen von ständigen Grenzkriegen entfernt, reflektierte der große Raum die kämpferische Tradition der Grahams. An den getäfelten Wänden hingen zahlreiche Waffen, symmetrisch geordnet. Schwerter und Piken, Musketen und Säbel mit Korbgriffen reichten bis zur hohen Balkendecke hinauf. Dazwischen zeigten mehrere Ahnenporträts die Graham-Physiognomie, in subtilen Variationen.
Dies alles ignorierte der Laird von Ravensby, denn sein ausschließliches Interesse galt einer bestimmten Lady. Doch er suchte sie vergeblich. Offensichtlich verzichtete sie auf eine Teilnahme am Kontertanz, den die Musiker soeben intonierten.
Er selbst blieb allerdings nicht unbeachtet. Bewundernd musterten die Damen seine hochgewachsene Gestalt in taubenblauer Seide, wobei sein skandalöser Ruf die Anziehungskraft noch intensivierte. Auch die Männer schauten neugierig zu dem prominenten, mächtigen Oberhaupt der Roxburgh-Carres herüber. In der schottischen Politik übte Ravensby großen Einfluß aus, insbesondere bei der derzeitigen Parlamentsdebatte. Was mochte ihn so weit von Edinburgh weggelockt haben, obwohl die Sitzung nur für kurze Zeit vertagt worden war? Während die Gentlemen darüber nachdachten, überlegten die Ladies angestrengt, wie sie seine Aufmerksamkeit erregen könnten.
»Sie tanzt nicht«, verkündete Johnnie. »Bist du sicher, daß sie überhaupt hier ist, Munro?«
»Natürlich, das hat mir der Haushofmeister bereits verraten. Vielleicht sitzt sie im Spielsalon, oder sie schlendert durch den Garten.«
»Was hätte sie denn im Garten verloren?« fragte Johnnie wie ein empörter Vormund, der sich um die Tugend seines Schützlings sorgte.
»Großer Gott, sie ist nicht dein Eigentum. Wahrscheinlich möchte sie die schöne Sommernacht genießen.«
»Dann werde ich mal nachsehen, mit wem sie diesen Genuß teilt.«
Besorgt eilte Munro hinter seinem Vetter her, der sich einen Weg durch die Menge bahnte und eine der Terrassentüren ansteuerte. Johnnie nickte den Leuten zu, die ihn begrüßten, blieb aber nicht stehen, um mit diesem oder jenem Bekannten ein paar Worte zu wechseln. Und dann hielt er inne. Endlich hatte er sie entdeckt. Strahlend schön, in kirschrotem Georgette mit Spitzenborten, kam sie vom Garten herein – am Arm eines lächelnden jungen Mannes.
Im selben Augenblick verstummte die Musik, tiefe Stille erfüllte den Saal. Fasziniert beobachteten alle Anwesenden den Laird von Ravensby, der reglos vor Elizabeth Graham stand. Jetzt wußten alle, was ihn nach Süden geführt hatte.
»Möchten Sie tanzen, Lady Graham?« fragte er und verneigte sich formvollendet.
Sie starrte ihn verwirrt an und warf einen Blick auf ihren Begleiter. Doch der war, angesichts des berühmten Neuankömmlings, bereits unterwürfig beiseite getreten.
»Vielleicht später, Mylord, wenn die Musik wieder spielt«, entgegnete sie, weil sie Zeit brauchte, um sich zu fassen. Ein Gentleman hätte die Ablehnung höflich akzeptiert.
Nicht so Johnnie. »Nein, ich will jetzt tanzen«, erklärte er und gab dem Orchester ein Zeichen. »Sehen Sie, Mylady, die Musik spielt wieder.« Sein Lächeln war unwiderstehlich … Nein, so leicht gab sie sich nicht geschlagen, nachdem sie monatelang gegen betörende Erinnerungen angekämpft hatte.
Seine starken Hände umspannten ihre schmale Taille. »Komm!« flüsterte er. »Oder willst du all diese Gaffer enttäuschen?«
Schwungvoll wirbelte er sie auf die Tanzfläche, und sie mußte sich an ihn klammern, um ihr Gleichgewicht zu halten. Wie vertraut sich sein Körper anfühlte, wie verführerisch …
»Wieso kennt er Hotchanes Witwe?« fragte die Pfarrersfrau ihre Sitznachbarin. Schockiert beobachtete sie das junge Tanzpaar. Die beiden schauten einander viel zu tief in die Augen.
»Hast nichts von der Entführung gehört?« Die andere Lady war nicht ganz so prüde und lächelte versonnen. »Ich dachte, das wüßten alle Grenzbewohner.«
»Oh!« flüsterte ihre Freundin entsetzt. »Wie kann sie nur mit ihrem Feind tanzen!«
»Wurde Ravensby jemals abgewiesen?«
»Ich wußte nicht, ob du tanzen kannst«, bemerkte Johnnie, nach langjähriger Erfahrung immun gegen die neugierigen Blicke. »Offenbar hat Hotchane Graham dir gestattet, diese Kunst zu erlernen. Du beherrscht sie ausgezeichnet, nebst anderen Fähigkeiten …«
Bei diesen geflüsterten Worten stockte ihr Atem, und es dauerte eine Weile,
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