Fleisch ist mein Gemüse
Vergnügen quiekten. Hier taten wir auch einmal etwas für uns. Und keiner hat es in den ganzen Jahren gemerkt!
Um 23 Uhr strömten immer noch unaufhörlich Leute in den Saal. Ich rückte meine Instrumente etwas vom Bühnenrand weg. Jetzt bitte keine Panikattacke! Außerdem begann es penetrant nach altem Fett zu riechen. Auf dem Weg zur Toilette sah ich, dass neben dem Saaleingang eine Pommesbude aufgebaut worden war, vor der sich eine lange Schlange gebildet hatte. Auf dem WC war jetzt schon das Papier ausgegangen, und die Ersten hatten sich übergeben. Im Spiegel betrachtete ich die Flechte. Fröhlich pochte sie vor sich hin; sie würde wahrscheinlich noch im Lauf der Nacht die Kontrolle über meinen Gesamtorganismus übernehmen. Die vier Eiterhauben schienen etwas größer geworden zu sein und sahen scheußlich aus. Halbherzig pulte ich an ihnen herum. Aua, aua. Keine Chance. Den Blick starr auf den Boden gerichtet, kämpfte ich mich zur Bühne zurück. Die Luft im Saal war nun ganz unerträglich, und wir drückten uns fast jede Pause im Kabuff herum, in dem es noch einigermaßen kühl war. Halb zwölf. Noch immer schoben sich die Massen in den Saal, der langsam völlig aus den Fugen geriet. 1100 zahlende Gäste waren an diesem Abend da, wie wir hinterher erfuhren!
«Ey, Musik, spielt jetzt mal den Marschwalzer.»
«Was ist jetzt, spielt ihr bald mal den Marschwalzer?»
«Macht mal den Marschwalzer, oder könnt ihr das auch nicht!»
Wir konnten uns dem Höhepunkt des Abends nicht längerverweigern:
Der große Marschwalzer
! Dabei fassen sich die Frauen wie bei einer Polonaise an den Schultern, bilden einen Kreis und marschieren zu den Klängen eines Marsches rechts herum. Die Männer formieren sich auf dieselbe Art zu einem äußeren Kreis und marschieren in die entgegengesetzte Richtung.
«Anneliese, ach Anneliese, warum bist du böse auf mich …»
Jetzt hieß es erst einmal im Stechschritt schön im Kreis herum, wie sich das gehört. Plötzlich wechselte die Band auf ein für das Publikum nicht erkennbares Zeichen in den Walzerrhythmus, und dann mussten der Mann und die Frau, die sich gerade zufällig gegenüberstanden, zusammen ein Tänzchen wagen.
«Kornblumenblau sind die Augen der Frauen beim Weine …»
Dem Zufall wurde dabei gerne nachgeholfen, denn die Männer wollten natürlich nicht mit den hässlichen Trutschen, sondern mit den wenigen Dorfschönheiten tanzen. Sie stürzten sich wie die Heuschrecken auf die Sexbomben, während die Trullas beleidigt darauf warteten, dass sich das System Marschwalzer von selbst regulierte. Nach wenigen Sekunden war die Selektion beendet, und auch die letzte dicke Marie wurde zu Walzerklängen übers Parkett geschoben.
«… darum trinkt Rheinwein, Männer seid schlau, dann seid am Ende auch ihr kornblumenblau.»
Nach zwei Minuten wieder abrupter Wechsel in den Marsch und so weiter und so fort. Durch den Marschwalzer sind schon unzählige Ehen gestiftet worden, denn nirgendwo kann man sich schneller näher kommen. Und wieder Marsch und wieder Walzer, und wieder Marsch und wieder Walzer, zwanzig Minuten lang. Die Leute: begeistert!
Zugabe, Zugabe!
Wir bedienten an dieser Stelle den tobenden Mob immer mit dem Titel
Danz op de Deel
. Der Begriff Kult wurde damals bei weitem noch nicht so inflationär verwandt wie heute, aber auf diese plattdeutsche Hymne von Carla Lodders traf er zu:
«Montag geiht das ruhig los mit Skat,
Dienstag die Partei ist meistens fad,
Mittwoch ist der Landwirtschaftsverein,
beim Kegeln, da haun wir ordentlich rein.
Freitagabend ist nicht gerade milde,
dor geiht dat rund in der Schützengilde.
Doch Sünnabend, da krieg wi dann die Wut,
die Woch wär gar nichts los, jetzt geiht das richtig ut.»
Refrain:
«Denn hüt is Danz op de Deel,
Danz op de Deel,
jümmers noch eenmol, quer so öbern Saal,
Ja hüt is Danz op de Deel,
Danz op de Deel,
jümmers noch eenmol so quer öbern Saal.»
Die Paare fegten an dieser Stelle in einer Art Squaredance wie wild geworden von einer Seite des Saales zur anderen. Für die bereits völlig durchgeschwitzte Band ein herrlicher Moment, da die enthusiasmierte Meute immer eine gehörige Portion Luft aufwirbelte, die uns ein bisschen kühlte. Die Tänzer wirkten nun schon ziemlich ausgepowert, aber jetzt war unsere Stunde gekommen, der Moment der Abrechnung, wir würden nichts unversucht lassen, sie in die Knie zwingen. Beim allerletzten Refrain zogen wir das Tempo deutlich an, und die
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