Fleisch ist mein Gemüse
Tänzer kamen mit dem Laufen nicht mehr hinterher. Wieder und wieder hetzten wir sie vom einen zum anderen Ende des Saales. Die Klein Eilstorfer Dorfjugend befand sich in der eisernen Umklammerung der Tiffanyschen Schraubzwinge, jetzt waren
wir
zur Abwechslung mal am Drücker! Die Leute konnten irgendwann nicht mehr und stürzten fast über ihre eigenen Füße, aber wir machten erbarmungslos weiter. Wer aufgibt, wird erschossen! Der Diener wird zum Herrscher, der Sklave wird zum Gott! Wir spielten so laut und schnell, wie wir konnten. Punk! Dann endlich der Abschlag, und Gurki entließ die jetzt wachsweiche Masse mit dem Kommando: «Alles in die Sektbar, denn es ist noch Sekt da!!!»
Mitternacht, wie von Zauberhand standen plötzlich ein Tablett mit belegten Broten und eine Riesenthermosbuddel Bohnenkaffee auf der Bühne. Ein guter Geist hatte auch an uns gedacht! Für kurze Zeit wähnten wir uns im Paradies. Die Graubrote waren ausschließlich mit Wurst belegt. Blut-, Mett-, Leber-, Tee- und Grützwurst. In der Mitte des Stilllebens thronte ein geschmackvoll drapiertes Stängelchen Petersilie, und überall waren noch kleine Gurkenscheiben verteilt.
«Guten Appetit.»
«Das habt ihr euch verdient.»
«Geil abgeliefert, haut rein, Jungs.»
Aber auch:
«Sag mal, wie rechnet ihr eigentlich die Pausen ab?!»
Halt bloß die Fresse, du Arschgeige, bevordutotgeficktwirst. Entschuldigung.
Mampfmampf spachtelspachtel schluckschluck und eine geraucht. Dann zweimal in die Hände geklatscht.
«Hopp hopp, aufi geht’s, meine Herren.»
Als wir gegen 0 Uhr 30 mit dem Oldies-Medley loslegten, spottete die Luft jeder Beschreibung. Kriegszustand, hier wurden keine Gefangenen mehr gemacht. Sechzehn Oldies hatten wir für unser Medley verwurstet, das nach dem ersten Titel benannt war:
Yesterday Man
. Das große
Yesterday-Man-Medley
, eine Ansammlung der debilsten Stücke des Rockpops der sechziger Jahre. Kriterien waren leichte Spielbarkeit, und Gurki an der Gitarre durfte möglichst keine Rolle spielen.
Yummy Yummy Yummy, I got love in my tummy, Haha, said the Clown, Sweets for my Sweet, Sugar for my Honey, Wully Bully.
Ein Stück war schlimmer als das nächste. Das Medley endete unausweichlich mit der Mitgrölhymne
«Na na na na, na na na na, hey hey hey, Goodbye».
Die Leute: begeistert! Völlig außer Rand und Band! Der ideale Zeitpunkt für das abscheulichste Lied der Welt,
Verdammt lang her
von
BAP
.
«Verdammt lang her, verdammt
lang, verdammt lang her.»
Die stiernackigen Jungbauern reckten die Fäuste in die Luft und sangen den einfachen Refrain mit. Wasser auf ihre Mühlen. Alles verdammt lang her. Früher stand der Weihnachtsbaum noch in der Mitte. Verdammt lang her.
Alter Wein aus alten Krügen …
Die humorlosen Mundarthippies aus Köln waren das Sprachrohr der Klein Eilstorfer. «
Verdammt lang her, verdammt lang, verdammt lang her.»
Gurki sang das Stück. Er war Klaus «Major» Heuser und Wolfgang Niedecken in Personalunion. Jetzt erst mal Strophe. Gurki versuchte sich lautmalerisch am rheinischen Idiom:
«Met gro so da wi do fre ko mo sa ledem froto, lu to fo ro ta de ro tu gi fotu re.»
Oder so ähnlich. Die Dorfjugend hörte dem wohlwollend zu. Dann endlich wieder Refrain
«Verdammt lang her, verdammt lang, verdammt lang her».
Gurki schaffte sich richtig rein. Jetzt fiel mir auch die Ähnlichkeit auf. Wolle und Gurki. Man musste sich nur Gurkis Riesenschnäuzer wegdenken und hatte praktisch eineiige Zwillinge vor sich. Vor meinem geistigen Auge erstand eine Diskussionsrunde: Wolfgang Niedecken, Antje Vollmer, Heinrich Böll und Gurki. Sie diskutieren über den Nato-Doppelbeschluss. Gurki keck: «Petting statt Pershing.» Antje Vollmer: «Ja, genau.» Sie hat den Witz nicht verstanden. Heinrich Böll nickt müde. Auch er hat sein ganzes Leben keinen rechten Zugang zum Humor gefunden, und jetzt ist er zu alt. Wolfgang Niedecken wird sauer. Humor ist bei dieser ernsten Angelegenheit nun wirklich fehl am Platz. Schließlich geht es um den Frieden.
Schnitt
. Gurki, Heinrich Böll und Wolfgang Niedecken sitzen als lebende Männerbarrikade aneinander gekettet in Mutlangen. Neben ihnen die Frauenbarrikade, Antje Vollmer, angekettet an die bekannte T V-Pastorin Odda-Gebine Holze-Stäblein und die damals noch halbwegs blutjunge Claudia Roth in ihrem ersten heißen Einsatz. Gurki brüllt in Richtung Bullen: «Gut –» Die Bullen: «Schuss!» Gurki: «Gut –» Bullen: «Schuss!» Gurki: «Gut
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