Fleisch ist mein Gemüse
versucht, dich zu töten, und dafür bin ich jetzt in der Hölle.»
«Ach was, das war doch schwierig damals mit meinem Vater und Opa, das kann man doch verstehen. Hab ich dir das jemals vorgeworfen?»
Mein Vater war mit einer anderen Frau verheiratet gewesen und hatte bereits fünf eheliche Kinder. Für ihn kam es nicht in Frage, seine Familie zu verlassen. Meine Mutter zog wieder zu ihren Eltern. Schrecklich. Schwanger von einem verheirateten Mann! Damals, 1962, ein Drama. Mein Großvater legte sogar sein Mandat als Kirchenvorstand nieder, weil dieses Amt ihm unvereinbar schien mit dem Umstand, dass seine Tochter ein uneheliches Kind erwartete. Ich glaube, dass meine Mutter damals unwiderruflich Schaden genommen hat.
«Jetzt werde ich dafür bestraft. Bin ich überhaupt noch am Leben? Bist du ein Mensch, oder bist du der Teufel? Komm, sag die Wahrheit, wir sind schon in der Hölle!»
«Was soll ich denn machen?»
«Ich soll geschlachtet werden. Ich werde nachher geschlachtet und habe es verdient, denn ich bin eine Mörderin.»
Mutter wurde schließlich wieder nach Ochsenzoll verlegt, mit gerade mal einundsechzig Jahren diesmal gleich in die Geriatrie, die Alterspsychiatrie. Wer dort landet, ist endgültig verloren. Viele der alten Leute bekamen niemals Besuch und lagen einfach nur im Bett. Die, die noch gehen konnten, irrten oft den ganzen Tag rastlos durch die Gänge der Anstalt. Andere saßenim Aufenthaltsraum, wackelten mit dem Kopf und sagten stundenlang denselben Satz.
«Mein Bruder, mein lieber Bruder, kommt nächstes Jahr zu mir zurück.»
«Ich bin in der Hölle. Hier ist die Hölle.»
«Achachachach, Achachachachachach.»
Auch Mutter saß den ganzen Tag stumm auf einem Stuhl und schaute ins Leere. Länger als eine Stunde hielt ich es meist nicht aus.
«Ich muss dann mal wieder.»
«Vergiss mich nicht.»
«Nein nein, ich vergess dich nicht. Du mich aber auch nicht.»
«Kommst du nächste Woche wieder?»
«Ja, natürlich komme ich wieder.»
«Ich bin keine gute Mutter. Hast du mich trotzdem noch lieb?»
«Ja, das weißt du doch. Nun red dir nichts ein, natürlich bist du eine gute Mutter.»
Das Frühjahr 87 war angenehm warm und mild. Alles blühte und duftete, und es konnte einem ganz wohl ums Herz werden. Niels und seine Freundin schienen im Schanzenviertel so weit zufrieden zu sein. Wir hatten uns jetzt mehr aufs Telefonieren verlegt, da mir der weite Weg nach Hamburg zu beschwerlich war. Außerdem fühlte ich mich dort als Fremdkörper. Ich gehörte nach Harburg!
Dr. Helmut Kohl wurde als Bundeskanzler wieder gewählt und nahm unaufhaltsam zu. Ich merkte mir viele private Details über den Gemütsmenschen, zum Beispiel, dass er sich jedes Jahr für zwei Wochen zum Heilfasten zurückzog und hinterher vom Kabinett immer für sein gutes Aussehen gelobt wurde. Außerdem drang durch, er sei begeisterter Aquarist oder wie dasheißt. Er ließ sich gerne zusammen mit den Fischen in seinem Dienstzimmer fotografieren. Was wohl Peter und Walter so machten? Ich hatte lange nichts von ihnen gehört. Wahrscheinlich studierten sie. Meine Peter und Walter bekam ich kaum noch zu Gesicht.
Die Archive meiner Hitfabrik quollen über, fast dreißig Playbacks hatte ich im Laufe der letzten beiden Jahre zusammengeschraubt, und schließlich half es alles nichts: Die Stücke mussten mal gesungen werden. Ich selbst kam ja nach selbstkritischer Einschätzung als Interpret nicht infrage (die erwähnten Handikaps) und sah mich sowieso als Strippenzieher im Hintergrund. Außerdem war meine Musik irgendwie Mädchen musik. Ich gab eine Anzeige auf:
Seriöser Produzent sucht gut aussehende Sängerin unter fünfundzwanzig für internationale Popsongs. Gute Kontakte zu Schallplattenfirmen vorhanden. Tel.
Die ungefähr zwanzig Sängerinnen, die anriefen, bat ich um Zusendung von
Material (wird garantiert zurückgesendet)
. Fotos und Audiokassetten hüte ich immer noch wie einen Augapfel in einer eigens dafür gekauften Pappschachtel. Nicht ein einziges professionelles Bild war dabei, sondern ausschließlich private Schnappschüsse minderer Qualität. Ein junges Mädchen hat sich beispielsweise auf einem braunen Sofa fotografieren lassen. Im rechten Arm hält sie einen Säugling und in der linken Hand eine brennende Zigarette. Sie hat einen Schlabberpulli an (auch braun) und guckt rechts an der Kamera vorbei ins Leere. Eine andere steht vor einer schwarzen Schrankwand, schwenkt eine Art Cocktailshaker über ihrem
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