Fleisch und Blut
sie niemandem Bescheid gesagt?
Es sei denn, Salander war nicht so vertraut mit ihrer Garderobe, wie er behauptet hatte, und sie hatte doch etwas mitgenommen. Ein paar legere Sachen in eine Tasche geworfen.
Forschung ... Ein Projekt an meiner Alma Mater, Psychologic im Hauptfach, also wahrscheinlich ein Psychojob. Genau in dem Fachbereich, von dem ich meinen Fakultätsausweis erhalten hatte.
Ich fuhr auf dem Wilshire nach Westen, geriet bei Crescent Heights in einen Stau: ein Caltrans-Trupp in orangefarbenen Westen - die dümmste Behörde im Staat -, der eine faschistoide Befriedigung darin fand, zwei Spuren zu blockieren. Ich stand da zusammen mit dem Seville im Leerlauf, rollte einen Meter oder zwei, stand wieder ein bisschen, kam endlich am La Cienega vorbei. Achtete nicht auf den Lärm und den Dreck. Hatte ein neues Ziel: Ich wollte mich unbedingt nützlich fühlen.
6
Um kurz nach halb fünf traf ich auf dem Campus der Uni ein, der so groß ist wie eine Stadt. Es gingen mehr Leute als kamen, und die ersten beiden Parkplätze, die ich ansteuerte, wurden aus irgendeinem Grund neu gestaltet. Die Universitätsangestellten klagen über Haushaltskürzungen, aber die Presslufthämmer machen andauernd Überstunden. Derzeit boomt L. A. - möglicherweise wird es so bleiben, bis die Erde das nächste Mal mit den Achseln zuckt.
Es war kurz vor fünf, als ich die Treppe zum Fachbereich Psychologie in der Hoffnung hocheilte, noch jemanden anzutreffen. Die Waffelfassade aus Zement und Stuck war neu gestrichen worden: kein gebrochenes Weiß mehr, sondern ein goldenes Beige mit glänzenden, gelbgrünen Untertönen. Ungewöhnlich hell für einen Ort, der den Freuden künstlicher Intelligenz gewidmet ist und in dem gehirnverletzte Ratten gezwungen werden, durch immer machiavellistischere Labyrinthe zu rennen. Vielleicht waren trotz Boom keine Stiftungsgelder locker gemacht worden, und der neue Farbton war ein Versuch, Wärme und Verfügbarkeit zu signalisieren. Falls ja, sagten acht Stockwerke Skinnerbox-Architektur: Vergiss es.
Als ich schließlich das Geschäftszimmer betrat, war die Hälfte der Lampen bereits ausgeschaltet und nur noch eine Sekretärin da, die gerade abschloss. Aber die richtige Sekretärin - eine rundliche junge Frau mit kupferroten Haaren namens Mary Lou Whiteacre, deren fünf Jahre alten Sohn ich im letzten Jahr behandelt hatte.
Brandon Whiteacre war ein netter kleiner Junge, sanft und künstlerisch begabt, mit der Haarfarbe seiner Mutter und den Augen eines erschrockenen Kaninchens. Bei einem Auffahrunfall auf dem Freeway war die Hüfte seiner Großmutter zertrümmert worden, und ihn hatte man zur Beobachtung ins Krankenhaus geschickt. Brandon hatte den Unfall relativ unversehrt überstanden - außer seinem Selbstvertrauen war nichts gebrochen, und bald begann er sein Bett einzunässen und schreiend aufzuwachen. Mary Lou fand meinen Namen auf der Überweisungsliste der Ehemaligen, aber der Fachbereich übernahm die Rechnung nicht. Sie litt noch unter den Nachwirkungen des Unfalls, und seit einer Scheidung vor drei Jahren steckte sie in finanziellen Schwierigkeiten. Ihre Krankenversicherung bot die übliche Grausamkeit an. Ich behandelte Brandon umsonst.
Beim Geräusch meiner Schritte blickte sie auf, und obwohl sie lächelte, schien sie einen Augenblick lang erschrocken, als wäre ich gekommen, um die Genesung ihres Sohnes rückgängig zu machen.
»Dr. Delaware.«
»Hallo, Mary Lou. Wie geht's zu Hause?«
Die roten Haare waren schwer zu bändigende Kräusellocken, die sie mit der Hand an den Kopf drückte. »Brandon macht sich prima - ich hätte vermutlich anrufen sollen, um Ihnen davon zu erzählen.« Sie kam zur Empfangstheke. »Ich bin Ihnen so dankbar für Ihre Hilfe, Dr. Delaware.«
»War mir ein Vergnügen. Wie geht's Ihrer Mom?«
Sie runzelte die Stirn. »Ihre Hüfte braucht lange, um wieder zusammenzuwachsen, und der andere Fahrer ist ein Arsch - behauptet, er wäre nicht schuld. Wir haben uns schließlich einen Anwalt genommen, aber es zieht sich alles in die Länge. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich versuche eine Studentin ausfindig zu machen, die an einem Forschungsprojekt beteiligt ist.«
»Hat sie schon ein Examen?«
»Noch nicht. Ich nehme an, Sie haben eine Liste laufender Projekte.«
»Nun ja«, sagte sie, »diese Art Information ist im Allgemeinen nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, aber Sie haben bestimmt einen guten Grund ...«
»Diese junge Frau ist seit einer
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