Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
Vom Netzwerk:
einem Versicherungsvertreter aus Hartfort, Connecticut, hätte gehören können. Er atmete kaum und blinzelte aus glasigen Augen in irgendeine dunkle, unergründliche Vision, wie jemand, der den Blick in einen endlosen Tunnel richtet – einen so echsenartigen Menschen hatte ich noch nie gesehen. Und wer konnte das sein, fragte ich mich, der da an Heiligabend in Jacks abgefahrener Beat-Wohnung saß und offenbar im Einklang mit einer völlig anderen Realität stand? Ricky Keen schnarchte leise in ihrem Nest am Boden. Ich studierte den Mann auf dem Sessel, als wäre er ein wissenschaftliches Projekt, bis es mir schlagartig klar wurde: das war niemand anders als Bill persönlich, der Scharfschütze, der sich den weiten Weg über die Beat-Wogen des blaukalten Atlantiks von Tanger hierher verfrachtet hatte, um Jack und seiner fertigen Beat-Madonna frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr zu wünschen!
    »Bill!« rief ich und sprang vom Sofa, um seine hölzerne, tote Hand zu schütteln, »das ist ja echt... also, ich kann gar nicht sagen, was für eine Ehre das ist«, und auf diese weggetretene, ehrfürchtige Weise machte ich gut zehn Minuten lang weiter, vielleicht hatte ich auch noch einen Rest Benzedrin in mir, und dann klappte Ricky Keen ihre Augen aus purem Gold auf, wie zwei Butterflocken, die auf einem Stapel Pfannkuchen schmolzen, und ich merkte, daß ich hungrig und gerädert und verkatert war, und Bill zeigte ohnehin keine Regung und sagte kein Wort.
    »Wer ist denn das?« stieß Ricky Keen in ihrer brüchigen, kratzigen, heiseren Kehlkopfkrebsstimme hervor, die ich inzwischen unglaublich sexy fand.
    »Wer das ist?« erwiderte ich ungläubig. »Na, das ist Bill.«
    Ricky Keen reckte sich, gähnte und schob ihre Baskenmütze zurecht. »Welcher Bill?«
    »Du meinst, du weißt nicht, wer Bill ist?« quietschte ich, und die ganze Zeit über saß Bill wie eine Leiche vor uns, seine Iris trocknete aus und seine Lippen waren fest um seinen kleinen nuggetförmigen Mund zusammengekniffen.
    Ricky Keen ignorierte meine Frage. »Haben wir gestern abend eigentlich was gegessen?« knurrte sie. »Ich hab derart Hunger, daß ich kotzen könnte.«
    In diesem Augenblick wurde ich mir eines total fertigen, scharfen, speicheltreibenden, wilden Geruchs bewußt, der aus der Küche herüber auf denselben Beat-Luftwellen daherwehte, der auch die verkitschten Sangeskünste von Bing und Mario herantrug: jemand machte Pfannkuchen!
    Trotz unserer tiefen Soul-Bruder- und auch -Schwesternschaft mit Jack und seiner Mémère waren Ricky und ich uns doch nicht ganz sicher, ob wir so einfach die Küche stürmen und uns dort einen Teller jener Pfannkuchen erschmeicheln durften, daher hielten wir kurz inne und klopften zunächst gegen die hölzerne Schwingtür. Von drinnen keine Antwort. Wir hörten Mario Lanza, das Zischen von Fett in der Pfanne und Stimmen, die redeten oder trällerten. Eine von ihnen schien Jack zu gehören, also klopften wir noch einmal an und stießen die Tür dann kühn auf.
    Wenn alles bisher Geschehene einen Höhepunkt haben konnte, die Beat-Epiphanie, der Inbegriff von heiligem, irrem Moment, dann war es das: Jack saß am Küchentisch, seine Mutter stand am Ofen, ja, aber da war noch eine dritte Person anwesend, erschienen unter uns wie einer dieser bärtigen Mystiker aus dem Orient. Und wer konnte das sein, mit dieser wahnsinnigen, gescheiten, glubschäugigen, dicklippigen Mischung aus Zen-Weisheit und froschartiger Anmut? Ich wußte es sofort: es war Allen. Allen persönlich, der Dichterfürst des Beat, den weiten Weg von Paris hergekommen für diesen abgefahrenen Augenblick mit Jack und seiner Mutter in ihrer bescheidenen, aber total fertigen Beat-Küche an der kalten Nordküste von Long Island. Er saß mit Jack am Tisch, vor sich einen wirbelnden Kreisel und sang dazu mit seiner verwaschenen, blubbrigen, von süßem Wein befeuchteten Stimme:
    »Kreisel, Kreisel, Kreiselchen,
Gemacht bist du aus Ton,
Und wenn ich dich mal tanzen laß,
Dann kreiselst du auch schon.«
    Jack winkte Ricky und mich herein und schob uns auf zwei leere Stühle am Küchentisch. »Abgefahren«, murmelte er, während der Kreisel über die Tischplatte sauste, und goß jedem von uns ein Wasserglas mit koscherem Brombeerwein ein, von dem sich mir beim ersten klebrigen Schluck die Kehle zusammenzog. »Trink aus, Mann, es ist Weihnachten!« dröhnte Jack und klopfte mir auf den Rücken, damit die Speiseröhre wieder durchlässig würde.
    Hier nun

Weitere Kostenlose Bücher