Fleischessünde (German Edition)
Abbildungen der zwölf Tore des Osiris, eine Art kartografische Darstellung des Wegs der Verstorbenen bis zu ihrer Wiedererweckung. In einigen der dazugehörigen Texte war auch von sieben, in anderen von einundzwanzig Toren die Rede. Der Endpunkt war immer der gleiche: das Tor zum Leben, das die Verstorbenen zurückgewinnen.
Nach einer Weile rief Dagan: „Hier hinten stehen nur Gefäße mit flachen Deckeln.“
Er kam zu ihm zurück und blieb stehen, um sich dort die Urnen näher anzusehen. „Diese hier sind neueren Datums. Sie haben alle diese Köpfe obendrauf.“
Malthus wandte sich nach links und betrachtete die vasenartigen Gefäße. In wiederkehrender Reihenfolge waren sie mit vier verschiedenen Häuptern gekrönt: Duamutef, der Falke, als Wächter des Magens, Amset, ein menschenähnlicher Kopf, für die Leber, Hapi, der Pavian, für die Lunge und Kebechsenuef, der Schakal, der das Gedärm bewachte. Das waren die vier Söhne des Horus.
„Ich verstehe den Sinn dieser ganzen Lagerhalle nicht“, sagte Malthus. „Wir befinden uns doch im Niemandsland, zu dem keiner der Unterweltgötter Zugriff hat. Was haben dann diese sterblichen Überreste hier zu suchen?“
„Gute Frage“, meinte Dagan.
In der Tat war es Sitte, die Organe des Verstorbenen bei seiner Mumie zu belassen, um ihnen den Weg ins ewige Leben zu ermöglichen.Sie getrennt vom Leichnam zu verwahren, widersprach allen Bestattungsriten, die auf die Fortexistenz nach dem Tode ausgerichtet waren.
„Wer kommt auf eine solch absurde Idee?“
„Die nächste gute Frage.“
Dagan nahm eine der Urnen herunter, betrachtete sie eine Weile eingehend und stellte sie aufs Regal zurück. Dann ließ er den Blick über die endlosen Reihen der Gefäße gleiten. „Es kommt nur eine der ägyptischen Gottheiten infrage. Isis, Osiris, Horus, Anubis, Apophis, Thot – nimm, wen du willst. Die Auswahl ist groß.“ Er hob die Hände und zuckte die Schultern. „Selbst unser alter Herr käme in Betracht.“
Malthus wiegte nachdenklich den Kopf. „Aber wenn Sutekh von diesem Ort hier wusste, warum hat er uns dann nicht gleich in eines der Zwischenreiche geschickt, um Lokan zu suchen? Er hätte sich doch denken können, dass es nicht nur eines davon gibt.“
„Stimmt. Dann können wir den Alten von der Liste streichen.“
Malthus rieb sich das Kinn und schaute sich die Wandmalereien an. An der Darstellung der letzten Pforte, des Durchgangs ins Leben, blieb sein Blick hängen. Der Schritt hinaus ins Sonnenlicht, die letzte Barriere der Unterwelt. Ihn überlief ein kalter Schauer.
„Das Blut der Isis und Sutekhs Blut“, wiederholte er leise für sich die Prophezeiung, die er von Kai gehört hatte. „Und der Gott wird die Zwölf Tore durchschreiten und wieder auf Erden wandeln.“
Dagan warf ihm einen erstaunten Blick zu, dann richtete er die Aufmerksamkeit ebenfalls auf die Wandbilder. „Verdammt“, entfuhr es ihm.
„Ja, verdammt“, wiederholte Malthus.
22. KAPITEL
Gib mir den Weg frei, dass ich wandle in Frieden,
Denn ich bin aufrecht und wahrhaftig.
Ich habe nie absichtlich gelogen,
Ich habe nie zwei Mal dieselbe Sünde begangen.
Nach dem Ägyptischen Totenbuch
R oxy hockte auf der Brüstung des Glockenturms, der sich an der Nordseite der alten Kirche erhob, in der sie sich ihr Zuhause eingerichtet hatte. Calliope und Malthus … Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Nach Calliopes merkwürdigem Tonfall bei ihrem Telefongespräch zu urteilen, wusste die es genauso wenig.
Roxy starrte auf den dunklen Horizont hinaus. Dies hier war ihr Lieblingsplatz, wenn sie allein sein und nachdenken wollte. Sie liebte die kühle Luft und den Anblick der kahlen Äste der Bäume, die in den Nachthimmel ragten. Dies war ihr Platz, und Dagan respektierte das und überließ sie hier oben sich selbst, wenn ihr danach war. Sie lebten jetzt zusammen in der ehemaligen Kirche.
Im Moment war Dagan nicht zu Hause. Er war mit Malthus unterwegs, nachdem er ein weiteres Niemandsland ausfindig gemacht hatte, eines jener Territorien, die weder zur Ober- noch zur Unterwelt gehörten. In einem solchen Niemandsland hatten Alastor und Naphré einen Teil der Überreste von Lokan in einem bleiernen Kasten gefunden. Jetzt suchten die anderen beiden Brüder nach dem Rest von Lokans Leichnam. Dagan war davon überzeugt, dass der in einem dieser Zwischenreiche versteckt sein musste.
Roxy war weniger überzeugt davon. Irgendetwas an dieser ganzen Geschichte war ihr nicht
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