Flesh Gothic (German Edition)
traf auf entrückte Verzückung. In der Ecke hatte sich der Künstler mit seinem Namen – Albrecht oder Albrekt – und einem erstaunlichen Datum verewigt: 1610. Am unteren Rand fand sich eine Gravur in italienischer Sprache. Eine kleine Goldplakette an der darunterliegenden Wand steuerte die offenkundig erst in jüngster Zeit ergänzte Übersetzung bei: DER APOSTEL JOHANNES BEIM VERFASSEN DER OFFENBARUNG IN PATMOS, CIRCA 90 N. CHR.
Mit zusammengekniffenen Augen bewegte sich Westmore näher an den Kupferstich heran und bemerkte die aufwendig gravierte Punktierung am oberen Rand der Schriftrolle, die das Wort REVELATIO ergab, unmittelbar darunter stand: CAPIT 13 .
Kapitel 13 im Buch der Offenbarung, dachte Westmore mit gerunzelter Stirn. Es galt als Fixpunkt für unsinnigen christlichen Mystizismus, für Apokalyptik und ...
Und für die Freaks, die auf Okkultismus und Teufelsanbetung abfahren, ist Kapitel 13 der Knüller schlechthin . Das wusste Westmore, zumal Johannes darin die geheimnisvolle Zahl des Tieres preisgab: 666.
Alles Humbug, davon war Westmore überzeugt, und fühlte sich in seinem Urteil über Hildreth bestätigt: Der Mann war ein Spinner gewesen.
Jemand hätte Johannes sagen sollen, dass die wahre Zahl des Tieres Donald Trumps Telefonnummer ist, scherzte er in Gedanken und kehrte zum Schreibtisch zurück. Dort holte er abermals den Schnappschuss des brünetten Mädchens hervor und hielt ihn zum Vergleich direkt neben das Gemälde. So ließ sich deutlich erkennen, dass der wohl von Hildreth beauftragte Künstler dieses Foto als Vorlage benutzt hatte. Die Signatur des Malers fand sich zusammen mit einem Datum in der rechten unteren Ecke wieder: Es lag etwa ein Jahr zurück. Ohne triftigen Grund drückte Westmore einen Finger gegen die Leinwand und stellte fest, dass sie wie erwartet trocken war.
Dennoch kam ihm etwas merkwürdig vor: Das Gemälde bewegte sich nicht, wie es normalerweise der Fall war, wenn man es mit einem Nagel an der Wand befestigte.
Westmore drückte gegen die Ecke und versuchte, das Bild abzunehmen. Es rührte sich zuerst nicht. Er setzte mehr Kraft ein, spürte, wie der Rahmen nachgab, und zog noch stärker daran. Schließlich glitt es mehr oder weniger von der Wand weg. Das hat jemand mit Dübeln befestigt, erkannte er, als er hinter den Rahmen linste. Und er sah noch etwas anderes. Was um alles in der Welt ist das?
Er zerrte noch einige Male daran herum, dann löste es sich endgültig von der Wand und offenbarte ...
... ein weiteres Gemälde in einem Rahmen.
Es war mehrere Zentimeter tief in die Wand eingelassen, offenbar die Maßanfertigung eines Schreiners. Westmore drehte die Schreibtischlampe, sodass sie direkt in die große viereckige Vertiefung leuchtete. Es handelte sich um einen weiteren Kupferstich, der unglaublicherweise noch älter wirkte als der andere und sich in einem Gehäuse aus Plexiglas befand.
Westmore begutachtete das Werk. Statt des alten Johannes, der zur Feder griff, war hier ein junger Kupferstecher mit kurzem lockigem Haar, einer etwas zu groß geratenen Nase und zu konzentrierten Schlitzen verengten Augen verewigt. Er bearbeitete mit dem Stichel die Kupferplatte und schuf das Ebenbild einer grässlichen Fratze. Wie bei dem anderen Kupferstich fand sich die rätselhafte Albrecht-Signatur und die Jahreszahl 1599.
Diesmal verliefen entlang des unteren Rands Worte auf Deutsch. Westmore beherrschte die Sprache zwar nicht, aber wiederum hielt eine kleine Plakette praktischerweise die Übersetzung parat: ICH, WIE ICH ES WAGE, DAS ANTLITZ AUS MEINER VISION NACHZUBILDEN: BELARIUS.
Also hat Albrecht ein Selbstporträt graviert, dachte Westmore. Und Belarius? Er kniff die Augen noch konzentrierter zusammen. Muss diese potthässliche Fresse sein, die er gerade graviert . Ein Bild im Bild.
Westmore konnte mit seiner Entdeckung nichts anfangen. Gut, Hildreth mochte den Kupferstich versteckt haben, weil er wertvoll war, aber wozu der Aufwand, das Gemälde der Brünetten hinter der Kommode zu verbergen? Trotzdem schien die junge Frau seine bislang vielversprechendste Spur zu sein, auch wenn es sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht um Hildreths Tochter handelte.
Wer mochte das Mädchen sein?
»Immerhin ist es ein Anfang«, murmelte er, nicht ganz unzufrieden mit den Entdeckungen des Tages.
Ich frage mich ...
Adrenalin strömte durch seinen Körper, als er an dem Kupferstich zog und spürte, dass dieser nachgab, genau wie zuvor schon das Gemälde. Als
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