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Flieh, so schnell es geht!

Flieh, so schnell es geht!

Titel: Flieh, so schnell es geht! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bowler
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Zimmer gehört den Zwillingen. Dumme Jungs, Fußballfans. So alt wie ich, aber nicht sehr helle. Noch mal checken, dann rasch durchs Fenster und es angelehnt lassen, wie es war.
    Kein Problem.
    Still stehen, lauschen. Alles ruhig, nur das Ticken der Uhr und ferner Verkehrslärm von der Zufahrtsstraße. Kein Mensch im Haus außer mir.
    Ich allein mit meinem Schmerz. Ja, der ist immer noch da. Ich sehe Paddys Gesicht. Ich hatte ihn, Bigeyes. Er war am Ende. Warum ist er nicht tot?
    Er ist nicht entwischt. Ich habe ihn laufen lassen. Ich habe es versiebt.
    Ticktack, ticktack. Diese blöde Uhr. Am liebsten würde ich sie kaputtschlagen.
    Ticktack, ticktack.
    Ruhig Blut. Sprich mit dir. Rede laut.
    Â»Los, beweg dich. Tu, was du dir vorgenommen hast.«
    Und ich hab viel vor. Also keine Zeit verlieren.
    Â»Beweg dich.«
    Jetzt zur Tür. Blick in den Treppenflur. Alles ruhig, abgesehen von der blöden Standuhr. Geh den Flur entlang, vorbei am Zimmer des ältesten Jungen, vorbei an zwei weiteren Zimmern, bis zum Treppenabsatz. Vorsicht, im Flur unten gibt es einen Sensor.
    Bisher hat er mich nie gemeldet. Aber ich gehe kein Risiko ein, ich lass mich fallen und robbe vorwärts.
    Kein Problem.
    Wieder auf die Füße und dort ist das Badezimmer. Vorsicht, das Schlafzimmer ist gleich daneben. Die Tür ist sonst immer geschlossen, nur diesmal ist sie offen. Der Sensor im Schlafzimmer erreicht mich hier nicht, aber trotzdem muss ich aufpassen. Ich bin nicht so umsichtig wie sonst, ich stehe unter Strom und könnte aus Versehen an dem Sensor vorbeilaufen.
    Zum Glück muss ich zuerst ins Bad. Genauer gesagt brauche ich etwas aus dem Bad. Hoffentlich hat es Mutti nicht aufgebraucht.
    Ich habe mir umsonst Sorgen gemacht. Sie hat das Zeug massenweise. Schau dir das Regal an. Sie hat sogar noch mehr als beim letzten Mal.
    HERBSTTRÄUME
    In 20 Minuten Ihr Haar dauerhaft färben
    Herbstträume? Wer denkt sich so was aus? Das ist ein Haarfärbemittel, nichts weiter. Na, Hauptsache es klappt. Verkneif dir das Lachen, Bigeyes. Ich hab das noch nie ausprobiert.
    Pflegende, mehrtonige Farbe für kräftigen, dauerhaften Glanz.
    Lese ich das wirklich? Egal, ich muss mich an die Arbeit machen.
    Schere. Beim letzten Mal habe ich zwei gesehen, eine kleine im Kosmetikschrank und eine andere auf dem Regal.
    Nichts zu sehen.
    Schau dich um. Nichts.
    Scheiße, das fehlt mir gerade noch. Ich will nicht das Haus nach einer Schere durchsuchen müssen. Moment …
    Hinter dem Duschgel, da ist noch eine. Halb verrostet, aber das muss genügen. Zieh die Jacke aus, den Pullover, das T-Shirt. Beug dich über das Waschbecken. Gut, jetzt die Schere.
    Aber die geht nicht. Weil ich mich nicht rühre. Ich stehe nur da und starre in den Spiegel. Ich halte die Schere in der Hand, so wie ich das Messer vor Paddys Gesicht gehalten habe. Nur dass jetzt ein anderes Gesicht zurückstarrt.
    Mein eigenes Gesicht starrt mich aus dem Spiegel an.
    Und weißt du was, Bigeyes? Dieses Gesicht ist noch verängstigter als Paddys. Und noch etwas.
    Es kommt mir vor, als hätte ich es noch nie gesehen.
    Ja, ich weiß, ich hab es hundert, tausend Mal gesehen. In jeder Hütte stelle ich mich vor einen Spiegel. Und immer wenn ich an einem Spiegel vorbeikomme, schaue ich hinein.
    Es mag blöd klingen, aber ich muss das tun. Nicht etwa, weil ich mein Gesicht so toll fände.
    Nein, ich hab Angst, mein Gesicht könnte böse aussehen.
    Das ist es aber nie. Es ist weder gut noch böse. Mein Gesicht verrät nie, was ich fühle oder denke. Mein Gesicht macht das von allein, ich brauche mich gar nicht zu verstellen. Deshalb liebe ich mein Gesicht. Es ist wie eine Zugbrücke, die mich vor der Welt draußen schützt.
    Aber nicht heute. Das macht mir angst. Weißt du, was passiert ist?
    Das Gesicht ist weg.
    Stattdessen bin nur ich da. Ich starre mich an. Und nun wird dieses Ich im Spiegel zu anderen Leuten, zu Paddy, zu Jaz, zu den beiden Beckys, zu Mary …
    All die anderen Leute.
    Ich will nicht mit ihnen reden, Bigeyes. Ich will sie nicht sehen.
    Â»Verschwindet.«
    Und da ist wieder mein Gesicht, wie es vorher war. Augen, Nase, Mund – alles wie vorher. Alles andere ist verschwunden. Gott sei Dank. Ich schaue auf die Schere und bewege sie probeweise.
    Sie funktioniert. ›Herbstträume‹ ist genau das, was ich jetzt brauche.
    Also los.
    Was meinst du, Bigeyes. Hab ich zu viel

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