Flieh solange du kannst
ihrem Platz aus konnte sie niemanden sehen, der um die Gebäude des Motels herumschlich.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch an der Eingangstür und schrak zusammen. Sie lehnte sich dicht ans Fenster und versuchte zu sehen, was da draußen vor sich ging – dann prallte sie zurück. Da war tatsächlich jemand! Sie hatte den Schatten eines Mannes gesehen. Ihr erster Gedanke war, zum Telefon zu laufen und um Hilfe zu rufen, aber dann fiel ihr ein, dass es noch gar nicht funktionierte.
Der Türknopf drehte sich. Klick, klick … Klick, klick.
Emma presste eine Hand gegen die Brust und ging ganz langsam auf die Tür zu. Sie versuchte, durch das Guckloch zu spähen, aber es war vollkommen dunkel. Offenbar hatte jemand etwas darüber gelegt, einen Finger vielleicht.
Oh, Gott, war das etwa Manuel? Sie hatte die Liste heute abgeschickt. Wenn er sie jetzt erwischte, würde er sie umbringen, genau wie Juanita. Und der arme Max musste womöglich dabei zusehen.
In ihrer Panik griff sie nach dem Baseballschläger von Max, den sie vor dem Zubettgehen gegen die Wand gelehnt hatte.
“Wer ist da?”, fragte sie mit zitternder Stimme, atemlos vor Angst.
“Ich bin’s.”
Vor Erleichterung gaben Emmas Knie nach. Das war nicht Manuel, sondern Preston.
Sie stellte den Schläger beiseite, löste die Sicherungskette und schob die Tür auf. Draußen stand Preston, gegen die Hauswand gelehnt, mit einer Zigarette im Mundwinkel, die allerdings nicht brannte.
“Du hast mich ganz schön erschreckt”, sagte sie und warf einen kurzen Blick auf das Guckloch. Die Handwerker hatten die Spione vorsorglich mit einem Band überklebt, um zu verhindern, dass beim Streichen der Türen Farbe darauf spritzte.
“Das tut mir leid. Ich wollte dich auch gar nicht wecken. Aber meine Karte ging nicht ins Schloss. Anscheinend hab ich den Magnetstreifen irgendwo deaktiviert, wahrscheinlich ist er zu nahe ans Handy gekommen.
Sie deutete auf die Zigarette in seinem Mund. “Sieht ganz so aus, als bräuchtest du ein Streichholz.”
Er nahm die Zigarette aus dem Mund und steckte sie in die Brusttasche seines Hemdes. “Nein, ich hab ja aufgehört.”
Da die beiden obersten Knöpfe seines Baumwollhemdes offen standen, sah Emma seine breite muskulöse Brust, die sie so bewunderte. Sie erinnerte sich, wie ungewöhnlich glatt die Haut dort war und wie das sprudelnde Wasser des Whirlpools sich darüber ergossen hatte. Am liebsten wäre sie auf ihn zugegangen und hätte ihn umarmt. Aber Preston machte keine Anstalten, sich auf sie zuzubewegen.
“Hast du ein Auto gekauft?”, fragte er.
Nervös spielte sie mit dem Gürtel ihres Morgenmantels. Es gab so furchtbar viel, was sie sich zu sagen hatten, aber Preston hielt Abstand, und mittlerweile kannte sie ihn gut genug, um zu wissen, dass es keinen Sinn machte, ihn zu etwas zu zwingen. Immerhin war er zu ihr zurückgekommen, mitten in der Nacht. Das bedeutete doch schon mal einen Fortschritt.
“Hast du denn nicht den schicken Chevrolet gesehen, der auf dem Parkplatz steht?”, sagte sie ironisch.
Er lächelte sie an. “Na ja, du sehnst dich doch nicht etwa nach deinem Jaguar zurück?”
“Nein, bestimmt nicht.” Sie musterte das Gesicht, das sie so sehr liebte. Er sah müde aus, erschöpft, vielleicht sogar enttäuscht. Wer weiß, was er alles erlebt hatte? Warum erzählte er nicht, wie es ihm ergangen war? “Ich habe dich so vermisst”, sagte sie leise.
Das schien ihn zu berühren, aber er ging noch immer nicht auf sie zu. Schließlich stieß er sich von der Wand ab und sagte: “Emma, ich kann nicht bleiben. Ich wollte nur nachsehen, ob es euch gut geht.”
“Bei uns ist alles in bester Ordnung. Ich habe uns ein Auto gekauft und herausgefunden, dass es eine freie Stelle als Lehrerin gibt. Vielleicht habe ich also schon bald einen Job.”
“Und wirst du dann deinen echten Namen benutzen?”
“Nein, ich heiße jetzt Emma Wright.”
“Und wie sieht es mit einer Wohnung aus?”
“In den Zeitungen gibt es einige Häuser zur Miete, aber ich will lieber zuerst eine Arbeit finden.”
“Klingt vernünftig.” Er warf einen Blick ins Zimmer, entdeckte den Baseballschläger und verzog das Gesicht. “Wie geht es Max?”
“Er fühlt sich ein bisschen einsam ohne dich.”
“Er ist wirklich ein toller Junge.” Unvermittelt schaute er plötzlich hinter sich. “Ich glaube, ich muss jetzt wieder los.” Dann beugte er sich nach vorn und gab ihr zum Abschied einen ganz sanften Kuss auf die Stirn.
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