Flowertown - Die Sperrzone
irgendwelche moralischen Bedenken hatte, zu stehlen. Wenn man diese Akten hatte verschwinden lassen, dann wollte sie den Grund dafür erfahren. Ihr war bewusst, dass sie nicht einfach mit den Akten unter dem Arm aus dem Gebäude spazieren konnte, vor allem nicht aus dem schwer bewachten Pflegezentrum. Sie gab vor, eine Verspannung im Hals zu bekämpfen, um die Decke nach Videokameras abzusuchen. Jeder Zentimeter des Korridors wurde überwacht. Hundertprozentig traf das auch auf die Datenabteilung zu. Nun, sagte sich Ellie, wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Wahrscheinlich ist es ein schlechter Weg, aber was zum Teufel machte das schon aus.
Sie drehte sich langsam auf dem Absatz um und versuchte wie eine gelangweilte Besucherin auszusehen, die sich die Zeit damit vertrieb, durch die Gänge zu laufen. Sie schlenderte zurück zu dem Aktenzimmer, wo die wütende Hornissenfrau noch immer grummelte und Schubladen zuknallte. Ellie beobachtete sie dabei, wie sie armeweise Ordner schleppte und diese dann auf einen Haufen auf einem Tisch fallen ließ, der im hinteren Bereich des Zimmers stand.
»Kann ich helfen?«
»Kennst du dich mit dem System aus?«, blaffte die kleine Frau sie an und schnippte mit ihren Fingern, als sie an Ellie vorbeiging. »Ich glaube, das tust du nicht, und du wirst nur alles durcheinanderbringen, und das ist das Allerletzte, was ich jetzt gebrauchen kann.«
»Ich könnte dir wenigstens beim Tragen helfen und dir damit ein paar Schritte abnehmen.«
Die kleine Frau hielt inne und runzelte die Stirn. »Ja, das könntest du allerdings. Wir beginnen bei den BTM Vier. Dort drüben.«
Ellie hatte keine Ahnung, was BTM Vier bedeutete, aber sie nahm eine Ladung Akten aus einer halb leeren Schublade und trug sie nach hinten.
Die Frau ging auf die andere Seite des Tisches und begann, die aufgehäuften Ordner zu sortieren. Dabei schimpfte sie vor sich hin und murmelte etwas über die verdammten Qs, Es und Hs, und dass sie Besseres zu tun habe. Ellie ließ sie in Ruhe.
Sie leerte die Schublade, mit der sie begonnen hatte und tat dann so – außer Sichtweite der Büroangestellten, aber direkt im Auge der Kameras – als würde man sie zu dem kleinen Schrank mit den Brandflecken hinüberschicken. Sie hoffte, dass die Kameras keinen Ton aufzeichneten, denn sie gab sich alle Mühebei ihrer Vorstellung und gab vor, die Karteischildchen auf der Vorderseite der Schubladen laut zu lesen. Sie nickte theatralisch für die Kameras, öffnete die oberste Schublade und nahm eine Ladung Akten heraus.
Am äußersten Rand des Tisches, diametral entgegengesetzt vom Arbeitsplatz der Angestellten, setzte sie die Akten absichtlich so schief auf der Tischplatte auf, dass der Stapel sofort umfiel und die Akten als Papierlawine auf den Boden polterten. Die kleine Frau brach in einen Schwall obszöner Schimpfwörter aus, den selbst Ellie für übertrieben hielt.
»Keine Sorge, ich kümmere mich darum.«
»Ja, natürlich wirst du dich darum kümmern. Und du wirst sie genau in der richtigen Reihenfolge sortieren, oder du verlässt mein Aktenzimmer.« Unter dem Tisch und außer Sichtweite der Kameras zeigte Ellie der wütenden kleinen Frau zuerst den Mittelfinger, bevor sie eine der Akten aufschlug. Sie konnte unmöglich die ganze Akte herausschmuggeln. Sie war viel zu sperrig, und sie hatte noch nicht einmal die lächerliche Plastikeinkaufstüte vom letzten Mal bei sich. Stattdessen blätterte Ellie schnell durch die Seiten und versuchte, die Seite mit den persönlichen Daten und den Fotografien zu finden. Wenn sie schon nicht in Erfahrung bringen konnte, was sie da stahl, dann wollte sie wenigstens wissen, wessen Daten sie stahl. Schließlich fand sie die Seite mit dem Foto, an die auch eine Quittung vom Gesundheitszentrum geheftet war, und riss sie aus dem Ordner. Sie nahm noch zwei oder drei der folgenden Seiten mit und stopfte die Seiten vorne in ihre Hose. Sie klappte die Akte zu, klaubte die verstreuten Ordner zusammen und ließ sie vor der Angestellten auf den Tisch fallen.
»Hier. Mir reicht es für heute.« Die Zicke staunte sie mit offenem Mund an und holte Atem für eine weitere Tirade, aber Ellie unterbrach sie mit einem Winken. »Nichts zu danken.Viel Glück!« Sie drehte sich um und ging zügig den Flur hinunter. Die letzten Wortfetzen eines neuerlichen Wutausbruchs drangen noch an ihr Ohr, als sie die Schwesternstation passierte.
Sie wusste, dass sie nicht einfach so davonrennen konnte. Sie musste Big Martha
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