Fluch der Engel: Roman (German Edition)
stammen.
Raffael holte mich am nächsten Morgen zum Unterricht ab. Um sicherzustellen, dass ich mich nicht woanders herumtrieb, wie er mir laut genug erklärte, damit sämtliche Wachposten, die wir passierten, es hören konnten. Ansonsten verlor er kein weiteres Wort über meine nächtlichen Begegnungen . Als wäre nichts vorgefallen, brachte er mich in die Bibliothek. Erst als wir oben auf der Galerie standen, überraschte er mich mit einer unerwarteten Frage.
»Wie viel weißt du über die Bindung von Menschen und Engeln?«
»So viel wie du, vermute ich. Engel können sich an Menschen binden und umgekehrt, was es ihnen ermöglicht, in der Welt des anderen zu leben.«
»Und sonst noch?«, bohrte er weiter.
»Dass mehr als zwei Bindungen den Engel in den Wahnsinn treiben und es freiwillige und unfreiwillige Bindungen gibt. Wobei die unfreiwillig geschlossenen nicht besonders lange anhalten – besonders bei Engeln, die vor über zweieinhalbtausend Jahren in Babylon geboren wurden«, setzte ich erbittert hinzu. Die dunkle Vorahnung, die sich am Tag zuvor bei mir eingeschlichen hatte, verstärkte sich.
»Dann weißt du sicher auch, dass es für einen Engel nicht ungefährlich ist, sich nur an einen Menschen zu binden.«
»Worauf willst du hinaus, Raffael? Dass ich einem Bündnis mit Sanctifer zustimme, damit er auch in der Menschenwelt sein Unwesen treiben kann?« Darauf konnte Sanctifer ewig hoffen. Ich wandte mich ab, weil Raffael nicht sehen sollte, wie wütend ich war.
»Sanctifer braucht dein Blut nicht«, antwortete er nur – das war mir neu.
»Ach? Und seit wann bitte? Gestern hat sich das noch ganz anders angehört!«
» Gestern hat Sanctifer einen Maskenball ausgerichtet, der dazu diente, einen Teil seiner Gäste mit mehr oder weniger freiwilligen Blutspendern zu versorgen.«
»Du … willst du damit sagen, dass Sanctifer Menschen entführt und sie in seinen Palast verschleppt?« Mir wurde schlecht.
»Er gibt seinen Kunden, was der Rat ihnen verwehrt hat«, klärte Raffael mich auf. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Sanctifers Menschenhandel gefiel ihm nicht. Verständlich. Auch Raffael war menschlich.
»Also hast du mir die Nachricht geschickt und die Tür aufgeschlossen?«
»Wer sonst?«, fragte Raffael ein wenig irritiert. »Ich war mir nicht sicher, ob du in der kurzen Zeit, die du im Ballsaal warst, herausfindenkonntest, dass sich hinter den silbernen Masken ausschließlich Menschen verbergen.«
»Warum hast du mir das nicht einfach gesagt?«
»Hättest du mir denn geglaubt?«
»Vermutlich«, antwortete ich zögernd.
»Aber vielleicht auch nicht. Schließlich bin ich Sanctifers Flüsterer .« Raffaels Verbitterung war greifbar.»Und warum habe ich dann auch eine silberne Maske getragen?«
» Dich eine tragen zu lassen und vor den Augen seiner Gäste in seine Gemächer zu bringen sollte ihnen zeigen, dass du ausschließlich ihm gehörst.«
Ich schwankte. Ich gehörte ihm nicht. Niemals!
»Auch wenn nur seine engsten Vertrauten wissen, wer du in Wirklichkeit bist, scheint es ihm wichtig zu sein, ihnen deine Verbundenheit zu demonstrieren.«
Meine Wut verdrängte das Gefühl, Sanctifer ausgeliefert zu sein. »Das lässt sich ändern!«, rief ich, bereit, aus der Bibliothek zu stürmen, um Sanctifers Freunden das Gegenteil zu beweisen.
»Es gibt noch mehr, das du wissen solltest«, hielt Raffael mich auf. »Vermutlich ist zurzeit nicht nur Lucia Sanctifers Gast, sondern auch ihr schlaksiger Freund.«
Während Raffael irgendwo unter mir in dem verschlungenen Regalsystem nach etwas suchte, umklammerte ich den Schreibtisch, um Halt zu finden. Dunkle Augen mit schwarzen Ebenholzsprenkeln flehten mich an, die Qualen zu beenden. Eisblaue Augen befahlen mir, goldene Nadeln in Philippes malträtierte Arme zu stechen.
Philippe war das perfekte Opfer. Er kannte die Welt der Engel, weil Sanctifer ihn entführen ließ, um mich zu erpressen. Abgesehen davon glaubte er an Übernatürliches. Er würde einem Engel sein Blut freiwillig geben. Auch einem wie Sanctifer – wenn er das nicht schon getan hatte.
Raffael kam mit einem Armvoll zusammengerollter Baupläne zurück. Dass ich weiß wie Schnee war und vor Anspannung bebte, entging ihm nicht.
»Lynn, geht es dir gut?«, fragte er besorgt.
»Ich … ich weiß nicht genau«, antwortete ich. »Aber wie würde es dir gehen, wenn dein bester Freund deinetwegen zum Spielball würde?«
»Ich würde alles tun, um ihm zu helfen. Sanctifer ist
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