Fluch der Engel: Roman (German Edition)
nur ein Zufall gewesen sein, dass das Mädchen im Flur ein Mensch war. Schließlich hatte auch ich heute Abend eine silberne Maske getragen.
Nachdem mein Blutdruck sich wieder normalisiert hatte, beschloss ich, ein paar der Silbermaskenträger zu beschnuppern und nach dem Zettelschreiber zu suchen. Möglicherweise gab es hier jemanden, der auf meiner Seite stand. Spontan fiel mir Raffael ein. Sauer genug, um sich endlich gegen seinen Ziehvater zu erheben, war er heute jedenfalls gewesen.
Mit einem Glas Wein in der Hand arbeitete ich mich zur nächsten Silbermaskenträgerin vor. Es wäre mir beinahe aus den Fingern gerutscht, als ich die zarten Hände wiedererkannte, die in den Pranken eines Engels lagen – obwohl ich eigentlich damit hätte rechnen müssen, Lucia, Philippes Freundin , bei Sanctifer anzutreffen. Schließlich hatte sie mir den Brief überreicht, in dem Sanctifer gedroht hatte, Philippe etwas anzutun, falls ich nicht erscheinen würde.
Hatte Lucia den Zettel geschrieben? Weil sie wusste, was Sanctifer mit Philippe angestellt hatte – und noch anstellen wollte?
Ich hob mein Glas, um ihr zuzuprosten, doch Lucia zeigte keine Reaktion. Vermutlich hätte sie mich auch ohne Maske nicht wiedererkannt. Ein Blick in ihre honigbraunen Augen verriet mir, dass sie schon lange nicht mehr mitbekam, was um sie herum passierte.
Ich verbannte den Gedanken, dass Lucia nicht freiwillig hier war. Sie wusste ganz genau, dass es Engel gab – auch welche, die Menschen für ihre Zwecke missbrauchten. Als Lucias Begleiter ihr beim Aufstehen half, gab ich meine Suche nach dem geheimnisvollen Briefeschreiber auf und folgte dem Engel, der sich bei Lucia eingehakt hatte, um sie aus dem Saal zu bugsieren.
Mein Verfolgungstrip führte mich über einen breiten Wandelflur zu einem Skulpturengarten, an dessen Ende Sanctifers Bootssammlung grenzte. Während Lucia und ihr Begleiter die Brücke neben dem Gebäude mit den Liegeplätzen passierten, bekam ich Gesellschaft.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Gartens, der das Bootshaus vom Palast trennte, setzten ein paar Engel zur Landung an. Verspätete Gäste vermutlich. Ich verzichtete darauf, sie näher kennenzulernen,und suchte schnellstens einen Platz, wo ich mich verstecken konnte. Eine offene Gondel mit Plane, von wo aus ich den Skulpturengarten überblicken konnte, rettete mich.
Anstatt ins Hauptgebäude zu gehen, schlugen die Engel den Weg über den Kanal beim Bootsschuppen in Richtung Wohnflügel ein, der Sanctifers Gästen vorbehalten und mir verboten war. Aber maskiert hatte ich vielleicht eine Chance, dort einen Blick hineinzuwerfen.
Ich duckte mich tiefer unter die Plane, als die beiden Engel ein paar Schritte von mir entfernt auf den Stufen der Kanalbrücke stehen blieben.
»Konntest du nicht was Leichteres mitnehmen?«, fragte einer der beiden und rüttelte an dem großen Sack, den sie mit sich schleppten.
»Beim nächsten Mal. Der da drin ist auf Bestellung hier«, antwortete eine dunkle Bassstimme.
Der da drin? Mit Luftanhalten versuchte ich, mein wild hämmerndes Herz unter Kontrolle zu bekommen. Was auch immer die beiden mit sich herumschleppten, musste schwer, männlich und noch am Leben sein – zumindest bewegte sich etwas in dem Sack.
»Schon wieder?«
»Ganz richtig«, erklärte der mit der Bassstimme, während sich mir der Magen umdrehte, als Philippes Bild in meinen Gedanken auftauchte.
Alles in mir drängte, meine Deckung zu verlassen und den Engeln meine Klauen zu zeigen. Aber das wollte ich nicht – noch nicht. Viel wichtiger, als die beiden aufzuhalten, war erst mal, herauszufinden, was sie mit dem Inhalt des Sacks vorhatten und wohin Lucia verschwunden war. Also verharrte ich in meiner Deckung, bis die Schritte mitsamt dem dumpfen Schleifen kaum noch zu hören waren und ich unbemerkt aus der Gondel klettern konnte.
Lautlos schlich ich ihnen im Schatten des Bootsschuppens hinterher und hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst, als ich im fahlenMondlicht die Gestalt erkannte, die sich mir in den Weg stellte: Raffael. Seine Augen verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen, als wollte er mich am liebsten in der Luft zerreißen. Seiner Reaktion nach zu schließen, hatte er den Zettel wohl doch nicht geschrieben.
»Warum bist du hier draußen?!«, herrschte er mich an.
»Einen Fluchtversuch planen?« Etwas Besseres fiel mir auf die Schnelle nicht ein.
»Ach, und ganz aus Versehen hast du das Bootshaus verpasst?« Er glaubte mir kein
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