Fluch der Engel: Roman (German Edition)
zu nehmen. Doch mir war klar, dass seine Gelassenheit nur Fassade war. Wenigstens wartete er, bis ich meine Geschichte zu Ende erzählt hatte, bevor er mich nach allen Regeln der Kunst zur Sau machte .
Nach dem Vorfall im Kletterpark fühlte ich mich sowieso schon ziemlich mangelhaft, doch Aron hatte in allen Punkten recht. Sein Training war sinnlos, wenn ich mich meinen Mitschülern als Engel offenbarte. Der Engelsrat hätte mich nach Venedig beordert, Aron das Tutorat entzogen und vermutlich Sanctifer die Aufgabe erteilt, mich zu einem ergebenen Racheengel zu formen. Schließlich war er schon seit meiner Engelsprüfung darauf aus, meine Ausbildung an sich zu reißen.
Immerhin erlaubte Aron mir, wieder ins Internat zurückzukehren. Allerdings musste ich ihm davor schwören, in Zukunft keine unüberlegten Klettertouren oder ähnliche riskante Aktionen zu unternehmen, wenn Christopher nicht bei mir war. Aber möglicherweise schickte er mich nur zurück, weil er sicher war, dass auch Christopher meinen Kletterausflug nicht unkommentiert lassen würde.
Mit gemischten Gefühlen stieg ich die Stufen zum Putzraum nach oben. Christophers vorwurfsvollen Gesichtsausdruck konnte ich mir lebhaft vorstellen. Kaum war er ein paar Stunden weg, passierte mir so etwas.
Der hohe Geräuschpegel im Foyer warnte mich. Normalerweise war auf dem Internat niemand wach, wenn ich vom Schloss zurückkehrte.Doch heute war ich später dran als sonst. Vorsichtig öffnete ich die Wandtür unter der Treppe, linste durch den Spalt und hätte vor Schreck beinahe laut aufgeschrien.
»Bleib lieber noch eine Weile in deinem Versteck«, begrüßte mich eine wohlbekannte Stimme: Raffael. Mit dem Rücken zur Tür stand er vor dem Zugang zum Putzraum.
»Was machst du denn hier?«, flüsterte ich. »Dem diensthabenden Mentor verraten, dass ich mich morgens im Putzraum rumtreibe?«
»Nein, eher dir die Möglichkeit geben, unbemerkt daraus zu entkommen – aber ganz wie du willst.« Ohne seine Deckung in der Nische neben der Treppe aufzugeben, trat Raffael einen winzigen Schritt zur Seite. So war es ihm möglich, mich weiterhin abzuschirmen, und mir, mich aus dem Putzraum zu quetschen und unbemerkt die beiden Gestalten vor dem schwarzweißen Marmorkamin zu beobachten.
Hannah rollte sich in bester Schlangenmanier um Christopher und versprühte ihr atemberaubendes Gift. Dass ich nicht aus meinem Versteck rannte und ihr die gespaltene Zunge aus dem pink geschminkten Mund riss, verdankte sie Raffael. Noch ehe ich die Deckung seines breiten Rückens verlassen konnte, packte er meinen Arm.
»Das solltest du erst tun, wenn du weißt, worauf sie es abgesehen hat.«
»Auf Christopher, worauf sonst?«, zischte ich wütend.
»Halt die Luft an, und hör zu! Im Ausspionieren bin ich gut. Wenn du Hannah zuvorkommen willst, musst du wissen, was sie vorhat.«
Raffaels Argument leuchtete mir ein. Obwohl es mich ziemlich viel Willenskraft kostete, blieb ich hinter seinem Rücken und belauschte Hannah beim Turteln mit Christopher.
»Schade, dass du nicht dabei warst. Du hättest richtig viel Spaß gehabt«, erklärte Hannah zweideutig.
»So wie du? Ist dir ein neuer Bewunderer ins Netz gegangen?«
Hannah kicherte. »Kannst du hellsehen? Das mit dem Netz war gar nicht mal so falsch.«
»Nein! Nicht das!«, keuchte ich – nicht aus ihrem Mund! Mein Magen krümmte sich, mir wurde schlecht.
»Hattest du vor, ihm zu verheimlichen, dass deine Flügel beinahe zum Vorschein gekommen sind?«
»Das … das ist nicht wahr«, stammelte ich. »Ich hatte alles unter Kontrolle.« Dass Aron das anders sah – und Christopher vermutlich auch –, musste Raffael ja nicht wissen.
Raffael drehte sich zu mir um – schon wieder dieser mitleidige Blick. »Es waren nicht deine Fingernägel, die das Netz aufgeschlitzt haben, und auch nicht die Sonne, die dich erleuchtet hat.«
»Du … du hast meine Flügel gesehen?« Panik überschwemmte mich. Was, wenn Raffael den Rat informierte, dass ich mich hier als Engel gezeigt hatte?
»Nein, doch sie waren kurz davor, sich zu entfalten. Aber da außer mir wohl kaum einer wissen dürfte, wie so etwas aussieht, haben die anderen das Leuchten auf deinem Rücken sicher nur für einen verirrten Sonnenstrahl gehalten.«
Ich atmete ein wenig auf – Raffael hatte nichts in der Hand –, nur um gleich wieder die Luft anzuhalten. Hannah strebte dem Höhepunkt ihrer Geschichte entgegen.
»Ich wusste schon immer, dass Raffael ein Blender ist.
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