Fluch der Meere (Historischer Roman) (German Edition)
ausweglosen Armut zu entrinnen mit Flucht über das große Wasser
- hinein in eine sehr ungewisse Zukunft. Viele überlebten die Überfahrt schon deshalb nicht, weil sie total unterernährt und gesundheitlich in desolatem Zustand an Bord gegangen waren. Man nahm beinahe jeden mit - sofern er für die Überfahrt bezahlen konnte. Eine schreckliche Spirale der Ausbeutung: Die hoffnungsfrohen Siedler, die aus ungewissen Quellen Geld zusammenkratzten, um in der Neuen Welt zu überleben, ihre Ausbeuter, denen sie die Überfahrt bezahlten, ob sie nun lebend ankommen würden oder nicht - und die Freibeuter, die das Schiff schließlich überfielen, alles von Wert an sich rissen und im wahren Blutrausch alle abschlachteten. Beinahe hätte Jeannet geweint, aber sie tat es aus zweierlei Gründen nicht: Erstens konnte sie sich das als Kapitän eines Piratenschiffes nicht leisten, wollte sie nicht ihrer mühsam errungene Autorität verlieren und zweitens hatte sie schon lange keine Tränen mehr!
Das, was sie mit eigenen Augen sah, war im Grunde dasselbe, was der Gaukler-Truppe damals angetan worden war. Jene Piraten, dies getan hatten, waren um keinen Deut besser als die wahnhaften Mörder von damals. Und jedesmal, wenn sie dieses Blut sah, spürte sie den unbändigen Hass in ihrem Herzen: Sie musste die Mörder dafür bezahlen lassen, die anderen Menschen solches antaten! Sie würden stellvertretend für jene sterben müssen, die damals ihre eigene Familie umgebracht hatten!
Das waren ihre Motive. Deshalb jagte sie statt spanische eben englische Schiffe. Mit Vorliebe Freibeuter, die so handelten, wie sie es mit eigenen Augen immer wieder sehen musste.
Dass sie dadurch im fernen England Königin Elisabeth ein Dorn im Auge geworden war, kümmerte sie nicht, denn England und Elisabeth standen für sie stellvertretend für die blutigen Ereignisse in ihrer Kindheit. Sie wollte niemals wieder damit zu tun haben.
Mit ihrem Heimatland verband sie nichts mehr.
"Holen wir die Brut ein, noch ehe sie englisches Hoheitsgewässer erreicht hat!", murmelte sie zwischen zusammengepreßten Lippen. Ihr Erster Offizier, einst ein Marschall, der in Ungnade gefallen war, weil er ein Verhältnis mit der Gattin seines Fürsten gehabt hatte, verstand sie sehr wohl, denn er hatte nur noch darauf gewartet und gab den Befahl lautstark weiter.
Marschall Ben Rider war an ihrer Seite, als die Masten der Verfolgten weit vor ihrem eigenen Bug scheinbar aus den Tiefen des Meeres emporstiegen. Ihr Klüverbaum deutete darauf wie die Pfeilspitze eines Bogenschützen auf das Ziel.
Jeannet warf kurz einen Blick auf den schweigsamen und stets in sich gekehrten Mann, der zuweilen sehr blutrünstig sein konnte. Er war wie sie. Er tötete, was er hasste - und das war alles, was ihn an das adelige England erinnerte. Weil es ihn gehetzt, verfolgt und erniedrigt hatte, obwohl sein Verbrechen in nichts weiter bestanden hatte, als einem Gefühl zu folgen. Dem Gefühl der Liebe zu einer Frau, die durch die Räson von Adelshäusern in ihre Ehe gezwungen worden war. Es grenzte an ein Wunder, dass er den Häschern seines eifersüchtigen Fürsten damals entkommen war. Wahrscheinlich war es ihm nur deshalb gelungen, weil er ihnen immerhin lange Zeit vorgestanden und sie kommandiert hatte. Vielleicht noch ein Rest von Respekt vor ihrem ehemaligen Marschall?
Doch jetzt war er hier, und das Glitzern in seinem verbliebenen Auge verriet, dass er sich schon auf seine Rache freute - Rache an England, das ihn früher genährt hatte und jetzt ächtete.
Jeannet waren die Motive ihrer Leute gleichgültig, so lange sie nicht genauso bedenkenlos handelten wie die Mörder ihrer Familie. Es war das Einzige, was bei ihr überhaupt noch zählte. Sie richtete ihren Blick wieder nach vorn, tat dies aber völlig ohne Freude.
"Es wird nicht leicht werden", sagte sie.
Ben Rider lächelte und entblößte dabei seine makellosen Zähne wie ein Wolf, der sich auf das Reißen einer Beute vorbereitete.
"Aber am Ende werden wir triumphieren, Jeannet. Dein Instinkt für Beute hat uns mal wieder nicht im Stich gelassen. Es ist eine Gabe."
"Und so lange ich diese Gabe besitze, werden all diese groben Kerle mir folgen, wohin immer ich sie auch führen mag!" Sie lachte hell auf.
"Sobald sie mich verlässt, wird einer von euch mir den Dolch in den Rücken stoßen und selbst das Kommando übernehmen. Vielleicht sogar du, Ben!"
"Niemals!"
"Sei ehrlich, Ben! Ich will mich darüber auch nicht beklagen.
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