Fluch der Nacht: Roman
glaube, wir haben keine andere Wahl.«
Krieger, findet euch zur Ratsversammlung ein!, sandte Mikhail den Ruf gleich aus.
Die beiden Karpatianer wechselten noch einen langen Blick, bevor sie Anlauf nahmen und sich als Eulen in die Luft erhoben, um über die schneebedeckten Gipfel zu der uralten Höhle zu fliegen, in der die Ratsversammlungen abgehalten wurden. Die beiden Raubvögel legten die Flügel an, als sie durch den Eingang flogen, sich schnell verwandelten und dann über den langen Gang zum Sitzungssaal hinuntereilten.
Nicolas war seit Jahrhunderten nicht mehr in der Höhle gewesen, aber sie flößte ihm immer noch das gleiche Gefühl von Ehre, Stolz und Kameradschaft ein wie früher in den alten Zeiten. Der Ehrfurcht gebietende Sitzungssaal war groß und rund und mit einem natürlichen Kamin in seiner Mitte ausgestattet. Die in der alten Sprache verfasste Inschrift an der Wand zeigte den Ehrenkodex des Kriegers an, nach dem er all diese Jahrhunderte gelebt hatte. Ehre, Gnade und Redlichkeit, Treue und tödliche Entschlossenheit – das waren ihre Gesetze, ihre Art zu leben.
Die Mauern der Höhle waren von einem dunklen Mitternachtsblau, beinahe wie der Himmel draußen, und mächtige Stalagmiten ragten in einem Halbkreis fast bis zu der hohen Decke auf, von der wiederum spiralförmige Stalaktiten herunterwuchsen, die von in ihnen eingeschlossenen bunten Mineralien glitzerten. Kristalle in unterschiedlichen geometrischen Formen standen aus den Mauern hervor und warfen beeindruckende Prismen auf den Boden. Das Innere der Höhle wurde von darunterliegenden Magmakammern aufgeheizt, was die Karpatianer zwang, ihre Körpertemperatur zu regulieren.
Vor langer Zeit war die Höhle von hydrothermalem Wasser durchflutet gewesen, aus dessen reichen Mineralablagerungen sich große, leuchtende Kristalle gebildet hatten. Diese Kristalle halfen den Kriegern, sich auf bevorstehende Schlachten, Strategien und Lösungen, aber auch auf das tägliche rigorose geistige und körperliche Training zu konzentrieren, dessen Weiterführung alle karpatianischen Krieger schwören mussten.
An den ersten großen Raum schloss sich ein zweiter, sehr viel kleinerer an, der vollständig umringt von Lavafelsen war. Einladender, reinigender Dampf stieg aus dem Inneren der zweiten Kammer auf und winkte ihnen.
In der Höhle wimmelte es von großen, dunklen, alleinstehenden Männern mit unnahbaren, kalten Augen. Mit seinen neuen Emotionen war Nicolas auf einmal in der Lage, Trauer und Verzweiflung für diese Krieger ohne Hoffnung zu empfinden, die nur für ihre Ehre lebten und nicht nur den Vampir bekämpften, sondern – was noch schlimmer war – auch gegen seinen Lockruf anzukämpfen hatten. Nicolas holte tief Luft und ließ die Magie der Höhle ihre Wirkung entfachen.
Er stand in der Mitte der kristallinen Höhle, am selben Ort, an dem so viele legendäre Krieger vor ihm gestanden hatten. »Es wird nicht leicht sein, meinen Brüdern gegenüberzutreten, wenn unser Familienname zum ersten Mal, seit wir denken können, mit Schande befleckt ist.«
Mikhail warf ihm einen ungeduldigen Blick zu. »Es ist ein bisschen überheblich, Nicolas, Scham über Dinge zu empfinden, die vor Hunderten von Jahren geschehen sind – als wärt ihr die Einzigen, die je einen Fehler gemacht haben! Du und deine Brüder habt eure Treue oft genug bewiesen. Manolito hat mir und auch Shea und ihrem ungeborenen Kind das Leben gerettet. Sollte ich vielleicht den Kopf hängen lassen vor Scham über all die Irrtümer, die mir im Laufe der Jahrhunderte unterlaufen sind? Wenn ich es täte, würde ich nie den Himmel sehen.«
Nicolas zuckte die Schultern, und ein kleines Lächeln, das seine Augen nicht erreichte, huschte über sein Gesicht. »Wir hatten damals einen Plan gefasst, deinen Vater abzusetzen und die Herrschaft der Dubrinskys zu beenden. Die Dinge, die wir planten, waren im Grunde nichts als leeres, wütendes Geschwätz, Mikhail, aber als wir um dieses Lagerfeuer herumsaßen und die Einzelheiten eines langfristigen Plans besprachen, haben wir Verrat an dir und unserem Volk begangen. Das ist durchaus ein Anlass, sich zu schämen.«
Mikhail runzelte die Stirn. »Wenn ihr das Geschlecht der Dubrinskys vernichtet hättet, wer würde dann heute eurer Meinung nach die Macht und das Wissen unseres Volkes besitzen?«
»Da wir die gleichen Fähigkeiten wie die Daratrazanoffs besaßen, waren wir überzeugt davon, dass es noch andere Familien wie sie und uns geben musste.
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