Fluch der Nacht: Roman
hier keine Angst.«
Dass Angst gerade nicht das Problem war, wusste er. Genauso deutlich spürte er aber auch ihren Wunsch, selbst wenn sie ihn schnell unterdrückte, draußen im Freien zu sein, wo sie sich nicht wie eine Gefangene fühlen würde. Doch er wollte sie nicht bewegen, oder jedenfalls nicht, bis sie wieder bedeutend stärker war.
Und deshalb lehnte er sich mit ihr an das Kopfteil seines Bettes zurück, legte das Kinn auf ihr seidiges Haar und hielt sie fest an seine Brust gedrückt. Sein Herz schlug unter ihrem Ohr in einem ruhigen, gleichmäßigen Rhythmus, der beruhigend auf sie wirken sollte. Sie wollte draußen im Freien sein? Ein kleines Lächeln erschien in Nicolas’ Mundwinkeln, als er den Blick zu der hohen Decke seiner Höhle erhob.
Die flackernden Kerzen erloschen urplötzlich und ließen sie in vollkommener Dunkelheit zurück. Sofort wurden beide von dem Gefühl ergriffen, dass der Raum wuchs und wuchs und sich erweiterte, und dann wurde die Dunkelheit von tausend Sternen über ihnen erhellt. Lara zog überrascht den Atem ein und blickte zu den funkelnden Sternbildern an der Höhlendecke auf. Der mitternachtsblaue Himmel bildete den perfekten Hintergrund für die fröhlich glitzernden Sterne. Eine leichte Brise fegte in die Höhle und brachte den Geruch von wilden Blumen und frisch gemähtem Gras herein. Lara machte große Augen, als sie sah, dass die Stalagmiten, lange Tropfsteine aus Mineralien, die im Laufe der Jahrhunderte vom Boden der Höhle nach oben gewachsen waren, sich in dicke Baumstämme verwandelt hatten, deren Äste sich miteinander verflochten, um einen Wald zu bilden. Ihre in der Brise flatternden Blätter erzeugten ein leises wisperndes Geräusch.
Lara lehnte sich zurück und blickte fasziniert nach oben. »Wie schön!«
Nicolas konnte die Augen nicht von ihrem schon fast ehrfürchtigen Gesichtsausdruck abwenden. Zum ersten Mal, seit er ihr begegnet war, hatte er etwas richtig gemacht, schien es.
»Siehst du diese Konstellation dort?« Er zeigte ihr eine Gruppe Sterne. »Beobachte sie mal.«
Zuerst standen die Sterne nur am Himmel, und es war schwer zu sagen, was er mit »Konstellation«, meinte, aber dann erschien ein Umriss am dunklen Himmel, und zwei Drachen nahmen nach und nach Gestalt an, als die Sterne heller erstrahlten und die Körper, die mächtigen Schwänze und die Köpfe formten. Ein Drache streckte und beugte sich und hob in einer anmutigen Bewegung eine Tatze. Der zweite Drache warf den Kopf zurück und stieß eine Wolke weißen Dampfes aus. Während Lara das Schauspiel fasziniert verfolgte, begannen die Gase umherzuwirbeln und verbanden sich, wie von der Schwerkraft angezogen, zu einem langen, fließenden, lichtdurchlässigen Rohr.
Der Drache spreizte die Flügel, als die Sterne seinen weißglühenden Körper formten. Sein Zwilling erhob sich auf die Hinterbeine und fächelte mit seinen Schwingen den Himmel, wobei er Sterne in alle Richtungen verteilte.
Ein leises Lächeln umspielte Laras weiche Lippen, auch dann noch, als sie sich müde an Nicolas zurücklehnte. Sie war so erschöpft und schwach, dass sie nicht einmal aufrecht sitzen konnte. Zärtlich bettete er ihren Kopf auf die weichen Kissen und legte sich, auf einen Ellbogen gestützt, zu ihr, um die Illusion, außerhalb der Höhle im Freien zu sein, noch weiter auszubauen.
Die Kristalle im Raum begannen zu vibrieren, brachten das Laub zum Tanzen und die Baumstämme zum Summen. Blumen schossen aus dem Boden und säumten einen hübschen kleinen Pfad, der vom Bett durch den Türbogen zu dem Raum mit dem heißen Wassertümpel führte. Der Türbogen verschwand unter Ranken, die sich miteinander verflochten und an den Wänden hinaufzogen.
Lara hielt den Blick auf die Sterne gerichtet. Die beiden Drachen tollten in sorgloser Unbefangenheit herum und brachten sie mit ihren Streichen zum Lachen.
»Versuch es auch mal!«, sagte Nicolas.
Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht.«
»Natürlich kannst du es.« Nicolas nahm ihre Hand, um seine Finger mit den ihren zu verschränken, und zeigte dann auf eine Gruppe von Sternen nicht weit über den Köpfen der beiden Drachen. »Such dir einen Sternhaufen aus, der dich an ein Tier erinnert.«
Sie schluckte sichtlich, und Nicolas konnte ihre Anspannung spüren, als sie im Geiste den Drachen skizzierte, den sie als kleines Mädchen an die Wand ihrer Eiskammer gezeichnet hatte. Sie war von ihm angesprungen und böse angegriffen worden. Die Lösung ihres
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