Fluch, Der: Roman
kommen aus kleinen Fläschchen, nicht aus der Luft.
Aber ich glaube, irgendwo ganz tief in Deinem Innersten bist auch Du fähig, an diese Möglichkeit zu glauben.
Ich glaube, daß ein Teil Deines Zornes, den Du in der letzten Woche auf mich verspürt hast, daher kommt, daß ich auf einer Meinung bestanden habe, von der Dein eigenes Herz Dir sagt, daß sie der Wahrheit entspricht. Du darfst mir gerne vorwerfen, ich würde hier den Amateurpsychologen spielen, aber ich habe mir folgendes dabei gedacht: Die Tatsache, daß nur einer von uns beiden für etwas bestraft wird, an dem wir gemeinsam beteiligt waren, führt mich dazu, an diesen Fluch zu glauben. Ich will damit sagen, daß Du Deinerseits Deinen Teil der Schuld verdrängst ... und, weiß Gott, Heidi, der feige Teil in meiner Seele hat den Wunsch, daß Du, wenn ich schon durch diesen höllischen Verfall untergehen muß, eigentlich genau so etwas durchmachen solltest ... das Unglück liebt nun mal Gesellschaft. Ich nehme an, daß wir alle so einen hundertprozentig durchtriebenen, mit Gold übertünchten Bastard in uns stecken haben, der so sehr mit unserem guten Teil verwoben ist, daß wir uns niemals ganz davon werden befreien können.
Aber es gibt auch noch eine andere Seite in mir, und diese andere Seite liebt Dich, Heidi. Sie würde niemals wünschen, daß Dir auch nur das geringste Leid geschieht.
Dieser gute Teil hat eine intellektuelle, logisch denkende Seite, und das ist der Grund, warum ich wegfahre. Ich muß den Zigeuner finden. Ich muß Taduz Lemke finden und ihm sagen, was ich mir während der letzten Wochen ausgedacht habe. Es ist sehr leicht, jemanden zu beschuldigen, und es ist sehr leicht, sich rächen zu wollen.
Aber wenn man die Dinge einmal etwas näher betrachtet, stellt man allmählich fest, daß jedes Ereignis immer ganz eng mit dem nächsten Ereignis verknüpft ist. Manche Dinge geschehen einfach, weil sie geschehen. Dieser Gedanke gefällt uns allen wohl nicht so gut, weil wir dann nicht mehr so leicht einen anderen schlagen können, um uns dadurch Erleichterung zu verschaffen. Wir müssen einen anderen Weg suchen; aber keiner dieser anderen Wege wird so einfach sein.
Ich will ihm sagen, daß gewiß keine böse Absicht hinter alledem gesteckt hat. Ich möchte ihn bitten, das, was er mit mir getan hat, rückgängig zu machen... vorausgesetzt, daß es überhaupt in seiner Macht liegt. Aber ich habe herausgefunden, daß mir vor allem eines am Herzen liegt: Ich möchte mich bei ihm entschuldigen. Für mich ... für dich ... und für ganz Fairview. Ich weiß heute eine ganze Menge mehr über Zigeuner als vorher, verstehst Du? Man könnte es wohl so ausdrücken, daß mir die Augen geöffnet worden sind. Ich halte es nur für fair, wenn ich Dir auch gleich noch eine andere Sache mitteile, Heidi – falls er den Fluch rückgängig machen kann, falls ich herausfinden sollte, daß ich nach alledem doch noch eine Zukunft habe, auf die ich mich freuen kann - dann werde ich diese Zukunft nicht in Fairview verbringen. Ich habe die Nase voll von Andy's Pub, vom Lantern Drive, dem Country Club und dieser gesamten dreckigen, scheinheiligen Stadt. Wenn ich diese Zukunft tatsächlich habe, dann hoffe ich, daß Linda und Du, daß ihr beide mich an einen anderen, saubereren Ort begleiten und dort mit mir zusammenleben werdet. Wenn Du nicht willst oder nicht kannst, werde ich trotzdem gehen.
Wenn Lemke nichts für mich tun kann oder will, habe ich wenigstens das beruhigende Gefühl, alles versucht zu haben, was in meiner Macht steht. Dann komme ich wieder nach Hause und werde mich bereitwillig in die Glassman-Klinik begeben, wenn Du es dann immer noch wünschst.
Wenn Du möchtest, kannst Du diesen Brief gerne Mike Houston oder den Glassman-Ärzten zeigen. Ich glaube, sie werden mir zustimmen, daß das, was ich jetzt unternehme, eine sehr gute Therapie sein kann. Na ja, werden sie sagen, schließlich könnte die Gegenüberstellung mit Lemke genau die Buße sein, die er braucht, um seine Selbstbestrafung, wenn es denn so etwas ist, auszumerzen (sie reden doch dauernd von der psychologischen Anorexie, wobei sie offenbar davon ausgehen, daß man sich so schuldig fühlen kann, daß man selbst seinen Stoffwechselzyklus hochtreibt, bis er zigtausend Kalorien pro Tag verbrennt). Oder, werden sie sagen, es gibt noch zwei andere Möglichkeiten: Entweder wird dieser Lemke ihn auslachen und ihm klarmachen, daß er noch nie in seinem Leben einen Fluch über jemanden
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