Fluch, Der: Roman
schien gar nicht richtig zu sitzen. Seine Knie knickten nur irgendwie ein, als sein Hintern sich über dem Sitzpolster postierte.
»Möchten Sie ein Bier?« fragte Billy.
»Kann nicht«, raschelte die Papierstimme, und Billy drehte unmerklich den Kopf etwas zur Seite, um dem Schwall seines süßlichen Atems auszuweichen. »Hatte meins für heute schon. Der Doktor sagt, mehr darf ich nicht. Magen kaputt. Wenn ich 'n Auto wäre, wäre ich reif für den Schrotthaufen.«
»Oh«, murmelte Billy.
Der Barkeeper wandte sich von ihnen ab und fing an, den Geschirrspüler mit Biergläsern zu beladen. Enders betrachtete die Zehn-Dollar-Note. Dann sah er Billy an.
Halleck erklärte seine Geschichte nochmals, während Enders verträumt in die hinteren Schatten des Lokals blinzelte.
Leise, wie ein im Traum vernommener Klang, klingelten die Glöckchen an der Eingangstür des Ladens nebenan.
»Sie waren hier«, sagte er, als Billy ausgeredet hatte. »Ja, ja, sie waren hier. Ich hatte schon seit sieben Jahren keine Zigeuner mehr gesehen. Und diesen Haufen vielleicht schon zwanzig Jahre nicht mehr.«
Billys rechte Hand umfaßte das Bierglas immer fester. Er mußte sich dazu zwingen, den Griff zu lockern, sonst hätte er es zerbrochen. Langsam, vorsichtig stellte er es auf der Theke ab.
»Wann? Sind Sie sicher? Haben Sie eine Ahnung, wohin sie gefahren sein könnten? Können Sie ...?«
Enders hob seine Hand - sie war so weiß wie die eines Mannes, der eben ertrunken aus einem Brunnen gezogen wurde, und Billy kam sie fast durchsichtig vor.
»Langsam, mein Freund«, sagte er mit seiner Flüsterstimme. »Ich werde Ihnen sagen, was ich weiß.«
Mit derselben bewußten Anstrengung zwang Billy sich, zu schweigen und einfach zu warten.
»Ich werde den Zehner nehmen, denn Sie sehen so aus, als ob Sie ihn entbehren könnten, mein Freund«, flüsterte Enders. Er steckte ihn in die Hemdtasche und schob dann den Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand in den Mund, um seine obere Zahnplatte zurechtzuschieben. »Ich hätte auch umsonst geredet. Teufel, wenn man feststellt, daß man alt wird, würde man manchmal gern jemand dafür bezahlen, daß er einem zuhört ... würden Sie Timmy bitte fragen, ob er mir ein Glas Eiswasser bringt? Ich schätze, selbst das eine Bier war schon zuviel - es brennt verdammt im Magen, das, was davon noch übriggeblieben ist -, aber es ist hart für einen alten Mann, auf all seine Vergnügungen zu verzichten, selbst wenn sie ihm gar kein Vergnügen mehr bereiten.«
Billy rief den Barkeeper zu sich, und er brachte Enders das Eiswasser.
»Alles in Ordnung, Lon?« fragte er, als er es hinstellte.
»Es ist mir schon besser, aber auch schon schlechter gegangen«, antwortete Enders und nahm das Glas in die Hand. Einen Augenblick lang dachte Billy, es wäre zu schwer für ihn. Aber der Alte schaffte es bis zum Mund, obwohl er dabei ein paar Tropfen verschüttete.
»Wollen Sie mit dem Kerl reden?« fragte Timmy ihn.
Das kalte Wasser schien Enders wieder zu beleben. Er setzte das Glas ab, warf Billy einen kurzen Blick zu und sah dann den Barkeeper an. »Ich finde, jemand sollte es tun«, sagte er. »Er sieht zwar noch nicht ganz so schlimm aus wie ich... aber er ist auf dem besten Weg dahin.«
Enders wohnte in einer kleinen Rentnersiedlung an der Cove Road. Die Cove Road gehörte, wie er sagte, ›zum echten Kern von Old Orchard - zu dem Teil, für den die Gauner sich nicht interessierten‹
»Gauner?« fragte Billy.
»Die Menge, mein Freund, die Menge. Meine Frau und ich sind 1946 in diese Stadt gekommen, gleich nach dem Krieg. Habe seitdem hier gelebt. Hab' es gelernt, einen Betrüger von einem Meister zu unterscheiden - armer, einsamer Tommy McGhee, bist nun auch schon viele Jahre tot. Hab' mir damals die Stimme aus dem Leib geschrien. Ja, ja. Was Sie jetzt noch davon hörn, ist alles, was von ihr übrig ist.«
Und wieder dieses leise Lachen, sanft und mild wie der Hauch einer kühlen Morgenbrise.
Wie es schien, hatte Enders so ziemlich alle Leute kennengelernt, die in irgendeiner Weise mit dem Sommerkarneval in Old Orchard zu tun hatten – die Händler, die Straßenverkäufer, die Zeltaufbauer, die Glashinauswerfer (Andenkenhändler), die Mädchen für alles (nicht fest angestellte Automechaniker), die Jahrmarktsleute, Rausschmeißer, Kuppler und Zuhälter. Manche waren Leute, die das ganze Jahr über dort lebten und die er seit Jahrzehnten kannte, oder solche, die jeden Sommer wie Zugvögel
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