Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)
drei Göttinnen Alekto, Megaira und Tisiphone waren älter als Zeus und alle Olympier, bis auf eine: Aphrodite, aus dem Schaum geboren, den die abgeschnittenen Geschlechtsteile des Uranos im Meer bei Kythera aufwühlten, war ihre Schwester. Die helle, glückliche Schwester, die Göttin der Liebe. Denn die anderen drei, entstanden aus den Blutstropfen, die aus der Wunde des Uranos in den Staub fielen, waren dunkle Gottheiten, Erdgöttinnen, und so furchtbar, dass die Griechen nicht einmal ihren Namen – Erinnyen – öffentlich auszusprechen wagten.
Die Erinnyen verfolgten Verbrechen gegen die naturgegebene Ordnung, Vater- und Muttermord sowie alle Taten, die zu entsetzlich waren, um von Menschen gerächt zu werden. Niemand konnte den Erinnyen entkommen, in keinem Heiligtum, keinem Tempel gleich welchen Gottes, war man vor ihrer Rache sicher. Es gab keine Zuflucht – bis auf die eine, die den Griechen unerreichbar schien: Man musste ein Land finden, das ganz neu war, jünger als die restliche Schöpfung, so jung, dass die Erinnyen es nicht kannten und folglich auch nicht erreichen konnten. Australien war so ein Land.
Es waren deshalb nicht die Erinnyen, die James Fagan quer durch Melbourne trieben, den Lauf des Yarra hinunter aus dem verwilderten Norden bis in den Hafen, die Port Philipp Bay. Es war das Wissen, dass er eine ganze Weile von der Bildfläche verschwinden musste. Unumkehrbares war geschehen, zum ersten Mal in seinem Leben. Aus all den Gaunereien, Diebstählen, kleinen Raubüberfällen war er, meist durch die Umsicht seiner
großen Schwester, irgendwie wieder herausgekommen, sogar wenn man ihn schon geschnappt hatte.
James Fagan dankte es ihr nicht, im Gegenteil. Er hasste sie für den Schatten, in den sie ihn selbst durch ihre Hilfe immer wieder stellte. Was er in dieser Nacht getan hatte, ging zum Teil auf diesen Hass zurück. Als er in der Dunkelheit neben Poll Hunleys Höhle hockte, hatte er sich vorgestellt, dass er diesmal, dieses eine Mal etwas schaffen würde, was Nell ganz offensichtlich nicht gelungen war: Er würde die Kinder zurückbringen, das Geschäft um sie fortsetzen, er würde von nun an die Forderungen stellen. Wer weiß, vielleicht wurden Nell und die anderen in dieser Nacht geschnappt, das Polizeiaufgebot sprach dafür. Dann würde er sie herausholen, freipressen mit dem Faustpfand, das er nur erst noch in seinen Besitz bringen musste.
Aber als er im ersten Grau der Dämmerung den Jungen sah, der auf Händen und Knien aus einer schmalen Öffnung im Boden gekrochen kam, um zum ersten Mal seit einer Woche beim Verrichten seiner Notdurft wieder allein zu sein, bemerkte James Fagan – ohne dass er es hätte sagen können –, dass ihn noch anderes trieb. Der Anblick des ahnungslosen Kindes, das in Schmutz und Asche da hockte wie ein kleines Tier, erregte ihn.
Es war nicht die Erregung, die ihn überkam, wenn er mit seinen Cousinen schlief. Er hatte nicht vor, den Jungen zu missbrauchen. Immer war es Jamie gewesen, der den kleinen Maguire in der letzten Woche am meisten gequält, ihn getreten, geschlagen, schließlich seine Zehen gebrochen hatte. Gerade die Vorstellung, dass der Junge jetzt offenbar glaubte, ihm entkommen zu sein, sich in Sicherheit wähnte, erregte ihn. Der ungeheure Kitzel dieser geheimen Macht ließ ihn tun, woran Nell ihn immer wieder gehindert hatte.
63.
James Fagan zog sein Messer, ehe Jonathan ihn gesehen oder gehört hatte. Mit einem raschen Sprung war er hinter dem Jungen und durchschnitt ihm die Kehle, bevor er auch nur einen Laut der Überraschung ausstoßen konnte. Eher neugierig als triumphierend, mit glänzenden Augen und vor Staunen offenem Mund verfolgte der Mörder dann den Todeskampf seines kleinen Opfers. Das Scharren der nackten Beine im Dreck, das hervorströmende Blut, das Zucken des Gesichts bei dem verzweifelten Versuch, noch eine Warnung herauszuschreien, schließlich das langsame Erlöschen des Lebensfunkens in seinen Augen.
Erst als Jonathan sich nicht mehr rührte, wurde James Fagan klar, was er getan hatte, und er wusste, dass nun auch das Mädchen sterben musste. Aber dazu musste er sie zuerst finden. Vorsichtig kroch er hin und her, fast wie ein Raubtier witternd, um das Loch zu entdecken, aus dem der Junge gekommen war. Als er sicher war, es gefunden zu haben, überlegte er. Einfach hineinzukriechen konnte gefährlich sein, das Wegräumen der Balken jedoch, die einen deutlich größeren Eingang versperrten, würde
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