Fluch von Scarborough Fair
hat uns einen gebrauchten Toyota besorgt.« Komisch, wie altmodisch die Leute manchmal waren. Noch vor einem Jahr hätte sie das gar nicht vermutet.
Einerseits ärgerte sie sich darüber. Immerhin könnte sie auch einfach ein schwangerer, lediger Teenager sein. Was würden diese konservativen Leute wohl dann dazu sagen?
Aber andererseits… war sie nicht ledig. Jetzt kamen Lucy die Worte mein Mann wie ein mystischer Prüfstein vor. Wenn sie in Panik geriet, musste sie nur an Zach denken, und schon wurde sie wieder ruhiger.
Im Grunde glaubte Lucy nicht daran, dass sich die Dinge für sie zum Guten wenden würden. Aber sie war felsenfest davon überzeugt, dass Zach für das Baby alles regeln würde. Bei ihrer Tochter wäre alles anders. Sie wäre keine Scarborough, sondern eine Greenfield. Und Zach würde sein Kind nicht im Stich lassen. Er hätte achtzehn Jahre Zeit, um das Rätsel zu lösen und alles in Ordnung zu bringen.
Lucy verabschiedete sich von Dr. Whang und walzte auf dem Weg zu Soledad durch die Krankenhauskorridore. Fremde Menschen lächelten sie auf den Fluren und im Fahrstuhl an. In den letzten Wochen hatte sich Lucy daran gewöhnt. Je nach Laune empfand sie all die Aufmerksamkeit entweder als lästig oder sie genoss sie. Sie gab ihr das Gefühl, dass das, was sie tat, wichtig war, und dass es die richtige Entscheidung war, das Baby zu bekommen. Auch wenn die Angst sie nicht losließ und sie wünschte– obwohl sie das nie offen zugeben würde–, sie hätte damals, als sie noch jung und naiv war und sich unbesiegbar vorkam, auf Soledad gehört und sich zu einer Abtreibung entschlossen.
Bei diesem Gedanken legte sie den rechten Arm schützend auf ihren Bauch. Ich hab das nicht so gemeint, sagte sie stumm zu dem Baby. Natürlich hatte sie es nicht so gemeint. Niemals. Niemals, Liebling. Dein Daddy wird dir später erzählen, wie ich mich gefühlt habe. Du sollst auch nicht im Geringsten daran zweifeln, dass du gewollt warst. Das alles wird schon seinen Grund haben, einen wichtigen Grund, den ich im Moment noch nicht erkennen kann.
Als Lucy in die Hebammenpraxis kam, sah sie sich um. Die Tür zu Soledads Büro war geschlossen. Jacquelines Tür stand offen, aber es war niemand da. Die ganze Praxis war menschenleer, sogar die Sprechstundenhilfe war nirgends zu sehen. Lucy zuckte mit den Schultern, nahm im Wartezimmer Platz und blätterte ein Magazin mit dem Titel Traveler durch. Plötzlich hielt sie inne und schaute sich einige Fotos der Bay of Fundy im Nordosten Kanadas an, wo es die größten Gezeitenunterschiede der Welt gab.
Sie las den ganzen Artikel dazu und runzelte anschließend nachdenklich die Stirn.
» Lucinda.«
Eine dunkle, einschmeichelnde Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Ihr Klang jagte Lucy einen Schauer über den Rücken. Sie sah zu dem Mann auf, der in dem leeren Wartezimmer neben ihr Platz genommen hatte. Sie kannte ihn. Es war dieser unglaublich gut aussehende Mann mit dem dunklen Haar und den sagenhaft blauen Augen, der für Soledad arbeitete. Nach einer Weile fiel ihr auch sein Name wieder ein: Padraig Seeley.
» Wie geht es dir?«, fragte er lächelnd. » Du siehst gut aus, ganz reizend.« Gelassen streckte er die Hand aus und legte sie auf ihren Bauch. » Was macht deine kleine Tochter? Sie muss doch schon bald auf die Welt kommen, oder?«
Lucy überlegte nicht lange, sondern handelte. Sie packte Padraig am Handgelenk und stieß seine Hand weg. » Fassen Sie sie nicht an! Fassen Sie mich nicht an!« Im nächsten Moment saß sie nicht mehr bequem neben ihm, sondern stand einen ganzen Meter von ihm entfernt und zeigte ihm die Zähne. Das Magazin war zu Boden gefallen und lag jetzt aufgeschlagen zu ihren Füßen.
Lucy keuchte.
» Lucinda, ich wollte dich nicht verletzen…« Er sah ihr in die Augen und lächelte.
Lucy wich seinem Blick instinktiv aus. Stattdessen betrachtete sie das Magazin auf dem Boden, die erstaunlichen Bilder der Bay of Fundy, wo man jeden Tag bei Ebbe auf den Grund des Atlantiks sehen konnte. Lucy bückte sich verlegen, um das Magazin aufzuheben. Sie hatte keine Ahnung, was in sie gefahren war, aber–
Padraig beugte sich zu ihr hinab und berührte sie erneut.
» Nein! Lassen Sie das!« Wieder war sie ein Stück von ihm weggerückt, und nun kauerte sie sich zusammen wie ein Tier.
» Lucinda–«
» Ich kenne Sie«, stieß sie barsch und kaum hörbar mit kehliger Stimme hervor. Obwohl die Worte schmerzten, sagte sie noch einmal: » Ich kenne Sie.
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