Flucht aus dem Harem
überdeutlich bewusst gemacht, was er längst geahnt hatte. Er liebte Leila. Er würde alles für sie geben, sogar sein Leben. Aber sie wollte nichts von ihm, außer seinem Schweigen - bis London. Sie hielt sich nur an eine Vereinbarung, von der er geglaubt hatte, sie würde seine körperlichen Bedürfnisse stillen und ihn Frieden finden lassen. Stattdessen weckte Leila immer neue Bedürfnisse in ihm. Er wollte Arm in Arm mit ihr einschlafen und mit ihr aufwachen. Er wollte das Lächeln auf ihrem Gesicht viel öfter sehen, ebenso wie den Ausdruck der Befriedigung, wenn er ihr Lust bereitet hatte. Er wollte ihre Finger in seinem Haar spüren und ihren Mund auf seiner Haut. Oder auf seinem …
„Worüber denkst du nach?“ Leila gähnte und streckte sich träge.
Er wickelte eine glänzende Haarsträhne um seine Finger. „Darüber, wie sehr sich mein Leben verwandelt hat in nur wenigen Stunden.“
Sie runzelte die Stirn. „Du siehst nicht aus, als wärst du glücklich darüber.“
„Doch, ich bin sogar sehr glücklich darüber. Über meine Freilassung und auch darüber, dass dich deine Flucht ausgerechnet in meine Kabine geführt hat. Ich wünschte …“ Er brach ab, und wie erwartet machte Leila keine Anstalten zu fragen, was er sich wünschte.
11
Die Sonne stand noch hoch am Horizont, als die „Sea Witch“ in den Hafen von Valetta einlief. Justin lehnte mit Leila an der Reling, und gemeinsam genossen sie das Schauspiel. Von den Bastionen wurden die Neuankömmlinge mit bunten Fahnen begrüßt, die zahlreichen Segelschiffe, die hier angelegt hatten, zeugten von der Beliebtheit der Mittelmeerinsel.
Der Kapitän hatte ihnen mitgeteilt, dass sie schon am nächsten Tag, nachdem die Ladung gelöscht und neue Ware eingeladen war, wieder auslaufen würden. Er empfahl Justin und Leila, in einer der Herbergen abseits des Hafenviertels Quartier zu nehmen. Da Malta zwar unter britischer Herrschaft stand, aber dennoch ein Schmelztiegel verschiedener Kulturen war, gab es auch öffentliche orientalische Badehäuser. Der Vorschlag des Kapitäns ließ durchblicken, dass sie sich gefälligst an Land um ein Bad kümmern sollten, wenn sie denn unbedingt eines brauchten und die Mannschaft mit dieser zusätzlichen Arbeit verschonen sollten. Harris schien auch davon auszugehen, dass Justin und Leila im Besitz von ausreichend Bargeld waren, da er keine Anstalten traf, sich diesbezüglich bei ihnen zu erkundigen.
So standen die beiden schließlich etwas verloren am Kai und sahen sich um. Justin hielt das Etui mit dem Rasierbesteck unter dem Arm. Leila trug Mantel und Schleier. Sie hatte nach wie vor noch nichts von ihren Schmuckstücken erwähnt.
„Wo sollen wir das Etui verkaufen, was meinst du?“, fragte Justin.
„Lass uns einfach in die Stadt hineingehen, vielleicht finden wir einen Marktplatz oder einen Geldverleiher.“ Sie kannte all das nur aus Erzählungen der anderen Frauen. In Alexandretta hatte sie den Palast nur zu gemeinschaftlichen Ausflügen an den Fluss oder in die nähere Umgebung verlassen. Händler waren mit ihren Waren für gewöhnlich in den Palast gekommen; eine willkommene Abwechslung in der eintönigen Alltagsroutine.
Justin nickte, und gemeinsam gingen sie über das Kopfsteinpflaster in Richtung Altstadt. Die Menschen, die ihnen entgegenströmten, setzten sich aus Europäern in westlicher Kleidung und Orientalen in farbenprächtigen Trachten zusammen. Alles in allem waren hier jedoch weniger Frauen als Männer unterwegs, und Leila rückte unwillkürlich enger an Justin, der das Etui unter seinem Burnus verborgen hielt.
In den engen verwinkelten Gassen reihte sich ein Laden an den anderen, und schon bald hatten sie einen gefunden, neben dessen Tür ein Schild in mehreren Sprachen verkündete, dass hier Handel mit Schmuck und Edelmetallen betrieben wurde.
Ein Glöckchen klingelte, als Justin die Tür öffnete und sie eintraten. Hinter einem langen Ladentisch saß ein Mann, dessen grauer Bart ihm bis auf die Brust fiel. Vor ihm lag das Innenleben einer Uhr. In seinem rechten Auge steckte ein Vergrößerungsglas, das im Licht der Öllampen aufblitzte, als er den Kopf hob.
Zögernd ging Justin auf ihn zu. „Seid gegrüßt, Meister Ingram“, sagte er. Der Name stand auf den Schildern neben dem Eingang.
Der Mann legte das Vergrößerungsglas weg und blickte ihn prüfend an. „Was kann ich für Sie tun, sayin Efendi? Sayin Hanim?“
Leila konnte Justins Unbehagen spüren, als der das Etui aus seinem Umhang
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