Flucht aus Oxford
schrie die Dicke plötzlich.
Ein engelsgleich aussehendes Mädchen hing kopfüber am Klettergerüst, ließ ihr Höschen blicken und brüllte aus Leibeskräften. Beim Klang der mütterlichen Stimme sprang sie auf die Füße und begann, auf einen zäh aussehenden kleinen Jungen einzudreschen – vermutlich jener Ryan, der schon zuvor sein Fett abbekommen hatte. Ryan heulte los.
»Ich gehe dann mal wieder«, sagte Kate. Sie spürte, dass sie es wieder einmal versäumt hatte, zwei neue Freundinnen zu gewinnen, aber wenigstens kannte sie den Vornamen von Donnas Freund, dem Raben. Das heißt – wenn man den beiden Frauen trauen konnte, was durchaus nicht sicher war.
Sie spürte, wie sich die Augen der beiden in ihren Rücken bohrten, als sie die Dorfstraße hinaufging. Mit ziemlicher Sicherheit würden sie sich während der nächsten zehn Minuten das Maul über sie und ihre unnatürliche Zuneigung zu dem Raben zerreißen. Nein, zu Russell. Sie musste sich unbedingt dazu zwingen, an den jungen Mann nur als Russell zu denken, damit sie nicht vor der Zeit ihre Trümpfe aus der Hand gab.
Sie bog nach Broombanks ab und blieb stehen, um sich zu orientieren. Auf beiden Straßenseiten standen identisch aussehende, kastenförmige Häuser. Am Straßenrand parkten rostige Autos, die schon bessere Zeiten gesehen hatten. Kate hielt Ausschau nach jemandem, den sie fragen konnte. Sie entdeckte zwei Kinder, die ein drittes ärgerten, wollte sie jedoch nicht stören. Vermutlich waren sie ohnehin nicht in der Lage, ihren Akzent verstehen. Schließlich trat ein böse dreinblickender alter Mann mit einem schwarz-weiß gefleckten Hund aus einer Toreinfahrt zu ihrer Rechten und kam auf sie zu.
»Entschuldigen Sie«, sagte Kate höflich.
»Was wollen Sie?«, fuhr er sie an.
»Ich suche nach …« Wie sollte sie ihn bezeichnen? »Freund« erschien ihr zu weit hergeholt. »Ich suche nach jemandem namens Russell.«
»Und was wollen Sie von ihm?«, raunzte der alte Mann. Der Hund hob sein Bein am vorderen Reifen eines roten Fiestas, doch sein Besitzer tat nichts, um es zu unterbinden.
»Das geht nur mich etwas an«, antwortete Kate, die allmählich lernte, sich in der hier üblichen Weise zu verständigen. Sofort zum Angriff übergehen, lautete die Devise.
»Er muss irgendwo in einem Mietshaus wohnen«, fügte sie so aggressiv wie möglich hinzu.
»Die Sozialwohnungen sind dahinten«, sagte der alte Mann und zeigte die Straße hinunter. »Sehen Sie? Ich weiß nicht, welche Wohnung es ist, aber Sie können ja einfach irgendwo klingeln und abwarten, was passiert.« Er lachte hässlich, rief seinen Hund und wandte sich grußlos ab.
Kate ging an den Kindern vorbei und passierte ein Haus, dessen Bewohner heftig zu streiten und dabei ihr Mobiliar zu zertrümmern schienen. Es folgte eine Reihe von Häusern, in deren Gärten nichts anderes wuchsen als Motorräder und rostige Badewannen. In einem anderen zerrte ein knurrender Schäferhund an seiner Kette. Schließlich erreichte Kate das graue, unschöne Mietshaus am Ende der Straße. Was nun?
Im Eingang roch es leicht nach Schimmel und Pilzbefall, doch glücklicherweise nach nichts Schlimmerem. Dort befand sich eine weitere Tür aus Panzerglas, die abgeschlossen war. Kate blieb vor einem Klingelbrett mit sechs Klingeln stehen. Eine davon würde sie drücken und ihren Namen nennen müssen, wenn sie hineinwollte. Auf keinem der Schilder stand der Name Russell, aber das hatte Kate auch nicht erwartet, weil es sich sehr wahrscheinlich um den Vornamen des jungen Mannes handelte. Sie rüttelte an der Tür, doch sie bewegte sich nicht. Das fünfte Klingelschild trug den mit Bleistift geschriebenen Namen »Paige«. Donnas Wohnung. Dort zu schellen machte nicht viel Sinn. Kate probierte die sechste Klingel. Keine Antwort. Die vierte. Immer noch nichts. Sie klingelte an der dritten.
Die Sprechanlage neben ihrem linken Auge krächzte und eine Stimme blaffte: »Ja?«
»Russell?«
»Ja.«
»Lassen Sie mich rein!«
Zu Kates großer Überraschung summte der Türöffner. Schnell warf sie einen Blick auf den an der Klingel angebrachten Namen. Er lautete Stevenson. Nun musste sie es nur noch fertigbringen, in seine Wohnung zu gelangen. Wenn sie jedoch Michelle und ihre Freundin richtig verstanden hatte, dürfte ihr die Tatsache, dass sie jung und weiblich war, dies erleichtern.
Kate stieg die Treppe zur ersten Etage hinauf, auf der sich zwei Wohnungen befanden. Eine der Türen stand offen. Im Flur wartete
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