Flucht ins Glück: Das Geheimnis von Baxter Hall: Von den Eltern verstoßen (Frauenschicksale im 19. Jahrhundert) (German Edition)
sie David erneut aufschreien. Sie sprang aus dem Bett. "Master David, ich komme!" rief sie und rannte barfuß zur Tür. Dabei stolperte sie fast über einen Hocker.
David saß mit angstvoll aufgerissenen Augen in seinem Bett. Den Hampelmann hielt er fest an sich gepreßt. Als Diana zu ihm trat, ließ er den Hampelmann fallen und schlang die Arme um sie. Schluchzend verbarg er sein Gesicht an ihrer Brust.
Diana quälte ihn nicht sofort mit Fragen. Sie nahm ihn auf den Schoß und wiegte ihn in den Armen. Erst als er ruhiger wurde, fragte sie: "Hatten Sie einen bösen Traum, Master David?"
David hob sein tränenüberströmtes Gesichtchen. "Ich habe ein Gespenst gesehen, Miss Coleman", flüsterte er atemlos vor Angst und klammerte sich noch fester an sie. "Es hat sich über mich gebeugt."
"Es gibt keine Gespenster, Master David", versicherte Diana. "Was immer Sie gesehen haben, es ist nicht mehr als ein Traum gewesen." Sie wies zur Gangtür. "Schauen Sie, die Tür ist geschlossen."
"Gespenster können durch die Wände gehen, Miss Coleman", antwortete er ernst. "Ich hab solche Angst." Er schmiegte sich an sie.
"Das müssen Sie nicht, Master David. Ich bleibe bei Ihnen, bis Sie eingeschlafen sind." Sie strich ihm durch die Haare.
"Mein Mund ist ganz bitter", beklagte er sich.
"Dagegen müssen wir etwas tun." Diana legte David ins Bett zurück und deckte ihn zu, bevor sie zum Waschtisch ging, die Waschschüssel holte und neben ihn auf das Bett stellte. "So, spülen Sie erst einmal Ihren Mund aus, Master David." Sie füllte ein Glas mit Wasser aus einer Karaffe, die auf seinem Nachttisch stand.
David richtete sich auf. Gehorsam spülte er seinen Mund aus.
"Besser?"
Er nickte. "Darf ich von dem Wasser auch trinken?"
"Natürlich." Sie füllte das Glas erneut aus der Karaffe.
David schlief innerhalb kurzer Zeit ein. Diana blieb noch ein paar Minuten bei ihm sitzen, bevor sie in ihr Zimmer zurückkehrte. Ihr selbst fiel es nicht so leicht, erneut Schlaf zu finden. Sie überlegte, ob es wirklich nur ein Traum gewesen war, der den kleinen Jungen erschreckt hatte. Bisher hatte David noch nie von Gespenstern gesprochen. Wie kam er mit einem Mal auf so eine Idee. Konnte der Besuch auf dem Friedhof den Alptraum ausgelöst haben?
Am nächsten Morgen erwachte Diana gegen sechs. Sie hörte, wie ihre Zimmertür geöffnet wurde. Eines der Hausmädchen brachte in einer Kanne frisches Wasser. Fast lautlos huschte es zum Waschtisch.
Diana wartete, bis das Hausmädchen das Zimmer verlassen hatte, bevor sie aufstand und die Vorhänge vor ihren Fenstern zurückzog. Sie schlüpfte in ihre Hausschuhe, legte einen breiten Schal um ihre Schultern und ging nach nebenan, um nach David zu sehen.
Der kleine Junge schlief. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißtropfen gebildet, seine Wangen leuchteten vor Röte. Erschrocken berührte sie sein Gesicht. David glühte! Es gab keinen Zweifel, er hatte hohes Fieber.
Sie rannte über den Gang zu Miss Hadfield, die gerade den kleinen Richard trockenlegte. "David hat Fieber, Miss Hadfield!" stieß sie hervor, ohne sich erst mit einem Gruß aufzuhalten. "Er glüht regelrecht."
"Ich komme sofort, Miss Coleman", versprach das Kindermädchen.
Diana kehrte in Davids Schlafzimmer zurück. Der Vierjährige warf sich unruhig im Bett herum. Er murmelte leise Worte vor sich hin. Sie nahm seine Hand. "Es wird alles gut, Master David", versicherte sie ihm. "Glauben Sie mir, es wird alles gut."
Während sie auf Miss Hadfield wartete, dachte sie an ihre Brüder und daran, wie sie ihrem Sterben hatte hilflos zusehen müssen. Es fiel ihr schwer, nicht zu weinen.
"Dolly paßt auf Master Richard auf." Miss Hadfield schlug die Bettdecke zurück. Davids Nachthemd war völlig durchgeschwitzt. "Bringen Sie mir kaltes Wasser und Handtücher, Miss Coleman", sagte sie. "Kleine Kinder bekommen schnell mal Fieber."
Das Fieber wollte nicht sinken. David ging es von Stunde zu Stunde schlechter. Mehrmals mußte er sich übergeben. Als Dr. Duffield, der Hausarzt der Baxters, am späten Vormittag kam, war der kleine Junge zu schwach, um sich ohne Hilfe aufzusetzen, und litt an heftigen Leibschmerzen.
Dr. Duffield ließ sich von Diana sagen, was David am Vortag gegessen hatte. Es war nichts dabei, wodurch sich Fieber und Leibschmerzen erklären ließen.
Sie erzählte ihm von seinem Alptraum und dem bitteren Geschmack, den er im Mund gehabt hatte.
"Vermutlich hat sich damit schon das Fieber angekündigt, Miss Coleman",
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