Flucht nach Avalon
Tor die geheimnisvolle Insel Avalon liegen sollte, auch wenn sie im Unsichtbaren verschwunden war.
Wegen des Windes hatte ich die Augen etwas verengt. Ich wollte nicht, daß sich Tränen bildeten und meinen Blick verschleierten. Kurz vor dem Endpunkt, also der Hügelkuppe, führten die letzten Stufen waagerecht weiter. Es ging nicht mehr höher.
Unwillkürlich verlangsamte ich meine Schritte. Nein, ich hatte keine Angst vor dem gewaltigen Torturm, aber sein Anblick aus der Nähe flößte mir doch einen gewissen Respekt ein.
Das war schon etwas.
Ein Zeugnis der Vergangenheit, etwas, das zwei Welten voneinander trennen sollte, wobei die eine Welt, die hinter dem Tor liegende, nicht sichtbar war.
Das sehr breite Tor ließ natürlich einen Blick auf die Gegend dahinter zu.
Sie sah nicht anders aus als die davor. Mit einem Unterschied allerdings.
Die grauen Stufen setzten sich nicht mehr weiter fort. Dahinter lag die völlig normale Rasenfläche.
Ich hob die Schultern.
»Ratlos, John?« fragte Kilian leise.
»Ein wenig.«
»Ich nicht.«
»Und warum nicht?«
»Dahinter liegt Avalon.«
Meine Antwort klang etwas zynisch. »Besteht Avalon nur aus einer glatten Grasfläche?«
»John, ich bitte dich. Du weißt selbst, daß es andere Welten gibt, für die man einen Schlüssel haben muß.«
»Den man mir stahl.«
»Leider.«
»Ich frage mich natürlich weiter, was ich hier noch soll? Es ist interessant, das gebe ich zu, aber das wird mich kaum weiterbringen, auch nicht zu Nadine Berger, schätze ich.«
»Könnte sein.«
Ich lächelte knapp. »Trotzdem werde ich das Tor durchschreiten und möchte dich bitten, hier auf mich zu warten.«
»Warum?« Kilian wunderte sich.
»Damit einer Bescheid sagen kann, wenn ich verschwunden bin. Das ist der Grund.«
»Den ich dir nicht abnehme.«
»Nicht mein Problem.« Ich fummelte nach der Kette, weil ich das Kreuz nicht mehr verdeckt tragen wollte.
Mein Begleiter schaute wissend und lächelnd zu, als ich das Kreuz vor der Brust zurechtrückte.
»Hast du was?«
»Das ist es also«, sagte er. »Bill Conolly erzählte mir davon. Ich sehe es wunderbar.«
»Danke, Kilian.« Bei den letzten beiden Worten hatte ich den Blick gesenkt, um das Kreuz beobachten zu können. Wenn wir tatsächlich an der Grenze standen, dann mußte es von ihm einfach gespürt und gemerkt werden. Es mußte reagieren, es mußte leuchten, strahlen, Kräfte entwickeln, aber es tat sich nichts.
Neutralität war angesagt.
»Bist du enttäuscht, John?«
»Worüber?«
»Daß dir dein Kreuz keinen Hinweis gibt.«
Ich hielt mein Gesicht gegen den Wind, um ihn wie Atem auf der Haut zu spüren. »Nein, ich bin nicht enttäuscht. Ich weiß ja, daß es einen Weg nach Avalon gibt.«
Er nickte. »Dann geh hin.«
»Bleibst du?«
»Ja.«
Ich lächelte ihm zu, drehte mich herum, holte noch einmal tief Luft und schritt auf das Tor zu.
So stark wie möglich konzentrierte ich mich auf diesen Durchgang. Er lockte mich, er lag so herrlich frei und offen vor mir. Ich brauchte nur hindurchzuschreiten. Es war alles so normal, abgesehen davon, daß sich das Bauwerk so allein aus der Landschaft hervorhob. Sicherlich hatte es eine Vergangenheit, eine Geschichte, die aber würde ich sicherlich noch erfahren.
Und so bewegte ich mich weiter, geriet schon sehr bald in den Windschatten der Mauern und hatte das Gefühl, das alte Gestein riechen zu können. Es war wohl mehr eine Täuschung.
Die nächsten beiden Schritte brachten mich in den Tordurchgang hinein, wo ich stehenblieb.
Veränderte sich etwas? Hörte ich Stimmen? Umwehten mich Botschaften aus einer fremden Welt?
Es war nichts zu spüren. In jeder Burg der Welt hätte ich ebenso durch den Eingang schreiten können, und nichts anderes wäre dabei geschehen.
Ich schaute mir die Innenseite der Wände an. Auch deshalb, um irgendwelche Zeichen oder Spuren zu entdcken, die möglicherweise auf Avalon hinwiesen.
Es war nichts zu sehen, nur witterungsbedingte Spuren.
Und dahinter sollte das geheimnisvolle Avalon liegen? Ich schaute hin und konnte es nicht glauben. Eine flache Landschaft breitete sich vor meinen Augen aus, die erst später überging in ein grünes Hügelland.
Nein, das war nicht Avalon, nicht so. Ich mußte einem Irrtum unterliegen.
Und doch ging ich weiter.
Fünf Schritte reichten aus, um das Tor zu durchqueren. An der anderen Seite stand ich. Nichts passierte.
Der gleiche Wind, der gleiche Geruch, das gleiche leicht angebräunte und traurig
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