Flucht nach Colorado
ihm ausging, die sie umfing und dazu brachte, die Dinge so zu sehen, wie er es wollte. Sie war nicht bereit, sich auf seine Seite zu stellen. Jedenfalls noch nicht.
Als sie sich wieder unter Kontrolle hatte, bemerkte sie, dass der Verband nach den Anstrengungen des Tages schmutzig geworden war. „Bevor wir schlafen gehen", sagte sie,
„sollte ich mir noch mal Ihre Wunden ansehen."
„Dann tun Sie das bitte gleich. Ich bin ziemlich müde."
„Ziehen Sie sich aus und waschen Sie sich."
Er ging zum Becken und schälte sich aus seinem Hemd. „Ich möchte, dass Sie mir zeigen, wie ich die Verletzungen selbst behandeln kann. Wenn Sie weg sind, muss ich wissen, was zu tun ist."
„Solange es keine Infektion gibt, ist das gar kein Problem. Halten Sie die Wunden einfach sauber und nehmen Sie jede Menge Jod."
Während er mit der Pumpe herumhantierte, spannte sich die seitliche Muskulatur seines Rückens. Das Kerzenlicht warf tanzende Schatten auf die Wand hinter ihm, als er seine Arme und die Brust mit Seife abschrubbte. Er zitterte. „Kalt", sagte er. „Mir ist in den Bergen immerzu kalt."
„Sie sollten mehrere Schichten anziehen." Sie klang so steif und förmlich wie ein Sicherheits-Ratgeber. Schnell presste sie die Lippen zusammen. Wenn sie ehrlich ausgesprochen hätte, was sie dachte, dann hätte sie vom Spiel seiner Muskeln geredet und davon, wie ihr seine breiten Schultern und die schmalen Hüften den Atem nahmen.
Mit blankem Oberkörper setzte er sich wieder auf seinen Stuhl. „Fertig."
Sie nahm den Verband ab und betrachtete die Wunden kritisch. Sie hatte gute Arbeit geleistet. „Ich habe das ganz ordentlich hingekriegt mit den Nähten. Sie werden zwar eine Narbe zurückbehalten, aber schlimm wird sie nicht aussehen."
„Eine Narbe mehr oder weniger macht keinen Unterschied", sagte er. Als sie die Verbände erneuert hatte, schlüpfte er wieder in sein Hemd. „Da gibt es noch etwas, das mir im Zusammenhang mit Lynettes Tod Kopfzerbrechen bereitet. Sie bat mich um einen Monat Zeit, damit sie ihre finanziellen Angelegenheiten regeln konnte, bevor ich die Scheidung einreichte. Wieso?"
„Das kommt mir nicht sonderlich merkwürdig vor." Emilys Geldgeschäfte waren zwar so geringfügig, dass alle Unterlagen für ihr Spar-und Girokonto und ihre permanent fallenden Investmentfonds gerade mal in einem Schuhkarton Platz fanden. Doch jedes Jahr, wenn sie die Steuererklärung machen musste, brauchte sie trotzdem mehrere Wochen, um die Belege zu sortieren. „Vielleicht war sie einfach ein wenig unordentlich."
„Nicht Lynette. Sie war eine Frau, die täglich eine Liste aufstellte und jede einzelne Aufgabe ordentlich abhakte."
Emily hob die Augenbrauen. „ Ich habe gehört, dass es solche Menschen geben soll.
Tüchtige Menschen."
„Ist wohl nicht Ihr Ding?"
„Ich bin effizient bei den Dingen, die unbedingt getan werden müssen. Aber ich lasse mich auch schnell ablenken. Ich beginne zum Beispiel, die Tür herzurichten oder das Sturmfenster für den Winter einzubauen. Aber dann sehe ich, was für schöne Farben die Wildblumen haben, und schon spiele ich mit Pookie Frisbee."
Sie warf einen Blick auf den Hund, der in der Nähe der Tür schlief. Er schien von einer Hasenjagd zu träumen, denn seine Pfoten zuckten, und er knurrte leise vor sich hin.
„Und als Sie Krankenschwester waren? Da mussten Sie doch funktionieren."
„Ich musste schnell sein. In einer Notfallsituation hat man keine Zeit, sich ablenken zu lassen." Dabei ging es bei der Krankenpflege um so viel mehr als nur um rein medizinische Hilfe. Emily tendierte zur ganzheitlichen Medizin. Sie versuchte, Trost zu spenden, indem sie eine Hand hielt oder eine fiebrige Stirn kühlte. Sie sprach mit den Leuten. Und hörte zu. Sie lauschte ihren letzten Worten.
Die Erinnerungen brannten wie Brennnesseln, sie zwang sich, wieder in die Gegenwart zurückzukehren. Das war nun ganz bestimmt nicht der richtige Moment, um sich an ihre schmerzhafte Vergangenheit zu erinnern. Sie durfte jetzt nicht die Kontrolle verlieren.
Offenbar war sie viel erschöpfter, als sie gedacht hatte.
Jordan beobachtete sie aufmerksam übenden Tisch hinweg. „Woran denken Sie gerade, Emily?" fragte er.
„Nichts Besonderes." Sie hatte bisher keinem Menschen von den Panikattacken erzählt, die der Job in der Notaufnahme mit sich brachte, und sie hatte auch nicht vor, ausgerechnet jetzt damit zu beginnen. In Gedanken schloss sie die Tür zu ihrer Vergangenheit. „Wir haben
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