Flucht über den Himalaya
Indien. Es gibt so viele Früchte da zu essen und andere gute Dinge! ‹
Ich glaube, ich habe ein Lied gesungen, als mein Vater und ich weiter über das Grasland gingen:
In der Wiese hinter mir
lasse ich meine Fußspuren zurück
Sie erzählen eine Geschichte
Die Geschichte meines Abschieds «
TAMDING
» Nachdem ich aus dem Strafbunker entlassen wurde, bat ich meinen Vorgesetzten, mich aus der Armee zu entlassen. Er verstand mich nicht, denn ich hätte Karriere in der Armee machen können. Aber er ließ mich gehen.
Immer wieder mußte ich an den Mönch in unserem Gefängnis denken. Ich unterhielt mich mit den alten Leuten aus unserem Dorf, die Tibet noch kannten, bevor die Chinesen kamen. Sie sagten, daß viele junge Männer ins Exil gehen, um dort an der Seite des Dalai Lama für ein freies Tibet zu arbeiten. Ich spürte, daß es kein Zurück mehr gab. Ich mußte weg. Zunächst reiste ich mit dem Zug bis Kermo. Dort erfuhr ich, daß die Polizei hinter mir her war. Sie vermuteten, daß ich vorhatte, nach Indien zu gehen, und als ehemaliger Wujing hatte ich zuviel erlebt, zuviel gesehen.
Am 1. Januar 2000 erreichte ich Lhasa. Sofort machte ich mich auf die Suche nach einem Flüchtlingsguide. Ich mußte vorsichtig sein. Oft geben sich Polizisten in Zivil als Guides aus, um Jagd auf tibetische Flüchtlinge zu machen. Doch ich hatte Glück und fand einen Guide, der fündunddreißig Mönche aus Amdo und ein Kind nach Indien bringen sollte. Er nahm mich mit zu einer tibetischen Familie, denn es war zu gefährlich für mich, in einem Hotel zu wohnen. Dort lernte ich Tamding kennen. Der Guide hatte auch den Kleinen bei seinen Freunden untergebracht, weil Tamdings Vater wieder nach Hause mußte, nachdem er den Sohn bis nach Lhasa gebracht hatte. Tamding schien nicht besonders traurig zu sein. Er freute sich auf Indien und machte sich auch in der Familie nützlich. Er kochte Amdo-Tee für uns und wusch das Geschirr. Ein richtig netter Junge. «
SUJA
Nachts ist es eiskalt auf den Straßen, auch wenn man in einem Bus sitzt. Doch die Heizung funktioniert nicht, und überhaupt fragt sich Tamding, ob das ein richtiger Bus ist. Denn richtige Busse fahren nur am Tag, wenn es hell ist. Dieser hier fährt nachts, wenn die Schlaglöcher noch tiefer sind und in den Straßengräben Räuber lauern. Deshalb hat sich Tamding, als sie am Abend ihr Versteck verlassen mußten, schnell den Sitzplatz neben Suja geschnappt. Suja hat halblange Haare und eine große Narbe auf der Stirn. Er kann einen Apfel mit bloßen Händen in der Mitte durchbrechen. Er redet wenig, aber er kann auch sehr lustig sein, und dann muß Tamding nicht ständig an seine Großeltern, die Eltern, Brüder und Jamjang denken. Der Freund weiß nicht einmal, daß Tamding auf der Flucht nach Indien ist. Ama und Paala haben den anderen Familien im Dorf erzählt, daß sie ihren jüngsten Sohn in ein entferntes Kloster schicken.
»Du kommst mich doch bald besuchen, oder?« fragte Jamjang, als sie einander an der kleinen Brücke Lebewohl sagen mußten.
»Ich glaube, man kriegt da nicht frei. Das ist ein sehr strenges Kloster.«
»Wenn du nicht kommen darfst, werde ich auch Mönch. Dann sind wir wieder zusammen.«
»Das wäre schön«, sagte Tamding und spürte ein schmerzhaftes Kratzen in seiner Kehle. Paala hatte ihm mehrmals eingeschärft, daß jeder Mitwisser der Familie gefährlich werden könnte. Es war so schwer, den besten Freund zu belügen!
Als die Männer ihr sechstes Bier öffneten, holte der Guide eine kleine Flasche mit einer seltsamen braunen Flüssigkeit aus seiner Manteltasche: »Die ist für dich, Kleiner. Damit wir auf deine Zukunft in Indien anstoßen können!« Die Cola zwickte auf der Zunge und schmeckte angenehm süß. Noch nie hatte Tamding etwas so Köstliches getrunken! Den ganzen Abend über nippte er sparsam an der Flasche, die ganz alleine ihm gehörte. Und das Prickeln auf der Zunge war ein süßer Trost.
Bevor der Vater zurück nach Amdo gegangen war, hatte er dem Guide alles Geld gegeben, das ihm der Verkauf seiner Schafe eingebracht hatte. Es war wirklich viel, doch der Guide hatte einen guten Ruf. Und tatsächlich war er von Anfang an um Tamdings Wohl bemüht gewesen. Eines Tages brachte er eine grüne Armeejacke mit goldenen Knöpfen vom Markt und trug der Frau des Hauses auf, daraus einen warmen Mantel für Tamding zu schneidern.
Der Mantel ist richtig cool – und wohlig warm. Die jungen Amdo-Mönche beneiden ihn darum. Einige
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