Flucht über den Himalaya
Großvater in seinem hölzernen Bottich stampft. Er hört das Pfeifen seiner Brüder, die ihre Yaks und Schafe auf die Weide treiben. Sechs Schafe hat der Vater für seine Flucht verkauft. Und jetzt ist alles verloren, bevor es noch richtig losging. Sein Guide ist weg. Vielleicht wird er seine ganze Kindheit in dieser Zelle verbringen. Zusammen mit zwölf Mönchen. Dann wäre es fast wie in einem Kloster. Und frei bekäme er auch nicht. Dafür jede Menge Prügel.
Das ist es, wovor sich die Mönche am meisten fürchten. Angestrengt lauschen sie, ob man die Schreie ihrer Mitbrüder hören kann. Einige beten so innig, als könnten die Mantras sie unsichtbar machen. Ob die Polizisten auch Kinder schlagen? Tamding ist noch nie geschlagen worden. Doch, einmal, als sie im ersten Schuljahr einen chinesischen Klassenlehrer hatten. Aber der ist zum Glück nicht lange an ihrer Schule geblieben. Es war ihm wohl zu kalt und zu einsam in ihrem kleinen Dorf. Außerdem hat keiner von den Kindern seine Sprache verstanden, auch wenn er sie rüttelte und schüttelte und ihnen die Hefte um die Ohren schlug.
Und einmal hat Paala seine älteren Brüder vermöbelt, weil ihnen ein Schaf verlorengegangen war und sie ihre Unaufmerksamkeit mit dummen Lügen vertuschen wollten.
Schritte auf dem Gang. Ein Schlüssel wird ins Schloß gesteckt. Mit Bangen blicken die Mönche zur schweren Eisentür: Wen werden sie als nächstes holen?
Die vier, die zurückkommen, sehen nicht gut aus. Erschöpft sinken sie zu Boden. Einer weint. Die anderen vergraben ihre Köpfe in den Händen. Mit einer unwirschen Geste deuten die Wärter auf jene, die nun mit ihnen kommen müssen. Tamding bleibt – und vier andere, die noch einmal aufatmen können.
»Was wollen die von uns?« fragt einer leise.
»Daß wir Flüchtlinge sind, ist denen klar. Sie wollen diesen Typ mit der Narbe auf der Stirn. Sie haben seinen Rucksack im Bus gefunden, mit Papieren und allem. Auf den sind sie schärfer als auf unseren Guide ! Außerdem haben sie gefragt, zu wem der Junge gehört.«
Da ist es wieder, dieses Prickeln unter seinen Haaren. Jetzt weiß Tamding, daß die Wärter auch ihn holen werden. Man wird ihn nach dem Namen seiner Eltern fragen und nach dem Dorf, aus dem er kommt. Aber er wird nichts sagen, egal, was passiert. Verrät er seine Familie, muß Paala noch mehr Schafe verkaufen. Plötzlich geht ein Ruck durch seinen leeren Magen: Das Büchlein mit dem Portrait seines Vaters! Was ist, wenn sich die Chinesen mit seiner Zeichnung auf die Suche nach den Eltern machen? Er wird den Polizisten erklären, daß der Mann in dem Büchlein sein Lehrer ist, dessen Züge er in einer langweiligen Unterrichtsstunde auf Papier gekritzelt hat. Was aber, wenn die Chinesen seine Lügen gar nicht verstehen können?
Köln, Ende Februar 2000
» Gib nicht auf! Egal, was passiert, gib nicht auf. Hör auf dein Herz. In euren Ländern hört man zu sehr auf die Vernunft statt auf die Herzen. Fühle mit! – Nicht nur mit deinen Freunden, sondern mit jedem. Fühle mit. Tritt für den Frieden ein. In deinem Herzen und in der Welt, tritt für den Frieden ein. Und ich sage noch einmal:
Gib nicht auf.
Egal, was passiert.
Egal, was um dich herum vorgeht.
Gib niemals auf. «
SEINE HEILIGKEIT, DER VIERZEHNTE DALAI LAMA
Im Kölner Stadtwald trainiere ich für meinen zweiten Anlauf, den Film über tibetische Flüchtlingskinder zu machen. Der erste Versuch lief schief und endete schließlich mit meiner Verhaftung in Tibet.
»Never give up« steht in großen weißen Buchstaben auf dem Rücken meines grünen T-Shirts, auf das ein bekannter Slogan des Dalai Lama gedruckt ist. In Dharamsala läuft jeder zweite Eso-Tourist mit so einem T-Shirt herum. Ich bin mittlerweile auch soweit.
Es hat ein paar Wochen gedauert, bis ich mich nach meinem kläglichen Scheitern ohne einen Millimeter Film im Gepäck nach Deutschland zurückwagte. Jürgen kam extra von Luxemburg angereist, um mich vom Kölner Flughafen abzuholen. Er packte mich und meinen zerfledderten Rucksack in seinen roten Golf und brachte uns zu seiner grauen Couch. Dort tröstete er mich mit Nougat und Krokantschokolade, um hinterher über die grauen Haare abzulästern, die mich die letzten Wochen gekostet hatten.
»Was willst du jetzt tun?« fragte er, und ich mußte grinsen.
»Was wollen Sie jetzt tun?« hatte auch mein ZDF-Redakteur gefragt, als ich ihn von Kathmandu aus anrief, um ihn über den vorzeitigen Abbruch unserer Dreharbeiten zu
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