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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Blumencron
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Jeden Morgen zwischen acht Uhr dreißig und neun Uhr werden die Zellen der Häftlinge geöffnet, damit die Männer in der Toilette ihre Eimer leeren und sich im Duschraum waschen können. Das war die einzige Gelegenheit für mich, dem Alten Nahrungsmittel zuzustecken: Brot und Eier, manchmal auch Kartoffeln. Langsam begann er, mir zu vertrauen, auch wenn wir kaum miteinander reden konnten. Wir verständigten uns über Blicke.
    Eines Tages wurde ich zu unserem Boß zitiert. Einige der Häftlinge hatten mich verraten. ›Warum hast du diesem Mönch Essen gebracht? ‹ fragte er mich voller Wut. › Er war hungrig, und ich konnte sehen, daß er es wirklich braucht ‹ , sagte ich. Das machte den Boß nur noch wütender, und er stellte mir ein Strafpapier aus. Es war das erste Strafpapier, das ich als Wujing bekam. Bei drei Strafpapieren muß man die Armee verlassen und hat hinterher keine Chance mehr auf einen guten Job. Eine Zeitlang hörte ich auf, dem Mönch Nahrungsmittel zu bringen. Doch dann ergab es sich eines Tages, daß ich mit ihm reden konnte. Alle Häftlinge sollten nach draußen, um sich auf dem umzäunten Areal die Füße zu vertreten. Der alte Mönch war von der Folter zu schwach, um herumzugehen. Also legte er sich einfach auf ein Stückchen Gras und versuchte, die Sonne zu genießen. Als die anderen Häftlinge weit genug weg waren, begann ich das Gespräch. Ich wagte nicht, mich zu ihm zu setzen, sondern blieb in einiger Entfernung stehen:
    ›Warum läßt du dich für diesen Dalai schlagen? Er hat den Tibetern nur Unheil gebracht! ‹
    › Das erzählen die Chinesen, weil sie an nichts glauben ‹ , sagte der Mönch. › Deshalb müssen sie das, was uns heilig ist, zerstören. In Wahrheit haben sie Angst vor Seiner Heiligkeit. ‹
    › Erzähl mir mehr von ihm. ‹
    › Wenn du wirklich wissen willst, wer der Dalai Lama ist, und wenn du erfahren willst, was uns Tibetern widerfahren ist, mußt du selber zum Dalai Lama nach Indien gehen. Dann wirst du alles verstehen. ‹
    Mehr sagte er nicht. Von diesem Moment an wollte ich die Wahrheit wissen.
    Die tibetische Wahrheit. Bisher kannte ich ja nur die chinesische … «
SUJA
    Die Hölle ist vier Quadratmeter groß und so leer, daß sich der innere Schmerz darin ausbreitet wie glühende Lava. Das mußten die Chinesen gewußt haben, als sie den neuen Strafbunker für ihr Militärgefängnis planten. Der Strafbunker ist die Zelle, in der die krummen Gedanken eines Überläufers wieder geradegebogen werden sollen. Hier werden die Mitglieder der Armee weggesperrt, wenn sie sich des Ungehorsams schuldig gemacht haben.
    Es gibt eine Matratze, einen Tisch und einen Stuhl im Strafbunker – für tausend Fragen, tausend Ängste und tausend innere Qualen. Es gibt kein Fenster, durch das man der eigenen Hölle entkommen könnte. Und die doppelte Eisentür liegt schwer im Schloß. Es gibt auch keine Ritze zwischen Tür und Boden, durch die sich ein winziges Stück Leben zu ihm hineinschleichen könnte: ein dünner Streifen Tageslicht oder das Geräusch vorbeieilender Schritte. Plötzlich sehnt sich Suja nach körperlichem Schmerz. Jede Ablenkung wäre jetzt besser als keine. Schon als Kind waren die Schläge der Mutter leichter zu ertragen als gar keine Berührung. Er überlegt, ob er die Neonröhre an der Decke mit dem Stuhl zerschlagen soll. Sie brennt ohne Unterlaß, schenkt ihm nicht einmal das leiseste Flackern. Es gibt keine Nacht und keinen Tag in dieser Hölle. Keinen Abend, an dem man seine Sorgen an das Universum abgeben, und keinen Morgen, an dem man wieder von vorne beginnen kann. Suja hat keine Ahnung, wie lange er schon eingebunkert ist. Er weiß auch nicht, wie viele Tage noch vor ihm liegen. Hier gibt es keine Zeit, und alle Qualen dauern in die Ewigkeit. Einen Monat hat ihm der Boß gegeben. Er hätte ihn auch exekutieren lassen und vorher von der Mutter das Geld für drei Patronenkugeln eintreiben können – so wie es vor jeder Erschießung praktiziert wird, um auch die Angehörigen seelisch zu exekutieren.
    Drei seiner Kollegen hatte Suja niedergeschlagen, er prügelte auf sie ein, bis sie nicht mehr aufstehen konnten. Warum hatten sie ihn auch provozieren müssen beim Abendessen? Suja wußte, daß sie auf Befehl des Bosses handelten. Sie sollten herausfinden, ob er noch auf ihrer Seite war.
    »Du ißt wie ein Schwein!« beschimpfte ihn einer quer über den Tisch.
    »Kein Wunder«, lästerte ein anderer, »wo soll er auch Manieren gelernt

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