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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Blumencron
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haben?«
    »Die Tibeter sind doch alle Barbaren!« rief ein Dritter.
    »Verpiß dich!« sagte Suja. Zwar leise, doch laut genug für die anderen, um sich daran hochzuschaukeln. Kurz darauf war er das Zentrum einer Schlägerei und teilte aus – so lange, bis die anderen nur noch Sterne sahen.
    Es war nicht das erste Mal, daß Suja um sich schlug wie ein verwundetes Tier.
    »Ich werde deine fette Mutter ficken!« hatte dieser kleine Chinese auf dem Schulhof damals geschrien. Er rechnete nicht damit, daß ›der dumme Tibeter‹ zuschlagen würde. Doch Suja ging es um die Ehre seiner Mutter. Daß diese hinterher nur sauer war, als er von der Schule flog, kann er bis heute nicht verstehen.
    Wie lange dauert ein Tag ohne das Ticken seiner Armbanduhr? Wie lange eine Woche ohne die Sirenen, die zum morgenlichen Appell rufen? Wie lange ein Monat ohne das Blöken der Schafe hinter der Armeemauer? Die Stille ist die leiseste Foltermethode der Chinesen. Suja hört das Blut in seinen Ohren rauschen. Würde China von feindlichen Fliegern bombardiert, er würde es nicht hören in seinem Bunker. Würde ein Orkan über Amdo hinwegjagen, er würde es nicht sehen in seinem Bunker. Würden aufständische Bauern ihre Barracken anzünden, er würde es nicht riechen in seinem Bunker.
    Vor vielen Millionen Jahren war Tibet vom Meer bedeckt, heißt es, und daß man heute noch versteinerte Muscheln in den Bergen finden kann. Davon hat er immer geträumt: einmal das Meer zu sehen. Vielleicht ist es zurückgekommen, das Meer, und schlägt seit einer Ewigkeit schon über seinem Bunker Wellen? Wie tief ist das Meer, wenn man auf seinem Grund gefangen sitzt? Und wie hoch der Himmel, wenn man frei und glücklich ist? Wie lange dauert die Ewigkeit? Und wie alt ist sein Schicksal? Trägt er die Schuld eines anderen Lebens ab?
    Ob der alte Mönch noch lebt? Nein, es tut ihm nicht leid, daß er ihm Essen zugesteckt hat. So hat er wenigstens etwas Gutes getan, falls sie ihn hier verrecken lassen. Das Leben im Bunker ist verwirrend genug. Richtig gehandelt zu haben, als er dem Alten Brot und Eier gab, ist das einzige, was Suja jetzt noch mit Sicherheit weiß. Und das gibt ihm Kraft.
    Auf dem Tisch liegen zwei Bücher. Das ›kleine Rote‹ und das ›dicke Braune‹. Das eine beschreibt das Leben von Mao Zedong. Im braunen Armeebuch sind alle Regeln und Grundsätze für einen guten Soldaten festgeschrieben. Noch jeder, der lange genug im Bunker gesessen hat und kurz davor war, seinen Verstand zu verlieren, hat sich schließlich an diese Bücher geklammert, deren Inhalt von vorne nach hinten und von hinten nach vorne gelesen, die Schriftzeichen, Wörter und Sätze aufgesaugt wie ein Vergifteter das rettende Gegenmittel. Das ist es, worauf sie hinauswollen: ›Umschulung‹. Am Ende wartet auf Suja eine Prüfung, in der sie testen werden, ob er wieder fest im Sattel der Armee sitzt.
    Nein. Er wird diese Bücher nicht anrühren. Denn seit er die Chance hatte, mit dem alten Mönch zu sprechen, hat eine neue Sehnsucht den alten Hunger nach Anerkennung verdrängt: Er muß die Wahrheit herausfinden. Und die liegt nicht in diesen Büchern. Sondern jenseits des Himalaya.

Tamdings Abschied
    » Meine Ama ging mit mir zum Laden unseres Dorfes, um einen Rucksack für mich zu kaufen. Den letzten Abend verbrachte ich dann mit meiner Familie. Wir aßen zusammen, und ich war sehr traurig. Ich durfte es mir aber nicht anmerken lassen, denn Großvater und Großmutter wußten nicht, daß ich am nächsten Morgen nach Indien aufbrechen würde. Sie hätten mich sonst nicht gehen lassen.
    Am frühen Morgen brachen mein Vater und ich auf. Wir gingen zu dem Fluß, der Yellow River heißt. Auf der anderen Seite wartete ein Mann, den mein Vater kannte: mein Guide. Vorsichtig gingen wir über das gefrorene Eis. Als wir das andere Ufer erreichten, legte mein Vater eine Glücksschleife um meinen Hals und segnete mich. Der Mann, der auf uns wartete, sagte, daß wir uns beeilen müßten. Wir gingen lange durch eine Landschaft, die wie die Wüste war. Auf einer Anhöhe machten wir Rast, und mein Vater forderte mich auf, Niederwerfungen in Richtung meines Heimatdorfes zu machen. Ich warf mich dreimal zu Boden und dachte an das, was Ama mir zum Abschied gesagt hatte: › Du bist der einzige aus unserer Familie, der nach Indien geht. Deshalb mußt du dich sehr bemühen in der Schule und viel lernen. ‹ Und als ich weinte, tröstete sie mich: › Du wirst sehen, es ist sehr schön in

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