Flucht über den Himalaya
haben sich schon während ihrer ersten Nachtfahrt verkühlt. Jetzt husten sie, und sie rotzen einfach auf den Boden des Busses. Daß es Mönche sind, würde kein Fremder mehr vermuten. In Lhasa haben sie ihre roten Mönchsroben gegen winterfeste Kleidung getauscht, und ihre Haare sind mittlerweile lang und struppig. Manche tragen sogar einen finsteren Bart. Vielleicht sind das gar keine Mönche, denkt Tamding, sondern Verbrecher, und sie müssen deshalb aus Tibet fliehen. Fünfunddreißig Diebe und Mörder, und er das einzige Kind unter ihnen! Die Vorstellung gefällt Tamding: Dann haben die Straßenräuber keine Chance, ihm die goldenen Knöpfe vom Mantel zu schneiden.
»Du solltest besser schlafen«, sagt Suja und holt einen großen Pullover aus seinem Rucksack.
Auf seinen Knien baut er ein wollenes Kissen für Tamding, legt behutsam den Kopf des Kleinen darauf. Dann fängt er wieder an zu singen. Ein altes Kinderlied. Leise und etwas schräg. Aber geflüsterte Worte tun immer wohl. Tamding schließt die Augen und sucht nach einem schönen Traum. Sujas Stimme wird immer weicher vor Trauer, und plötzlich fallen von oben zwei warme Tränen auf das schlafende Kind.
Wenn deine Hände noch schmutzig sind,
nimm kein Brot!
Mein kleiner Liebling, wasch erst deine Hände,
wasch sie ganz sauber! …
Als Tamding erschrocken aus dem Schlaf hochfährt, haben sie angehalten, und eine Männerstimme brüllt auf Chinesisch einen Befehl quer durch den Bus.
»Wir müssen aussteigen«, murmelt Suja. »Keine Angst. Ist nur eine Kontrolle.«
Zwei chinesische Polizisten treiben alle Insassen aus dem Bus. Am Straßenrand stehen fünf bewaffnete Männer, die ihre Gewehre auf die Flüchtlinge richten. Das Grün ihrer Uniform unterscheidet sich nur für das geübte Auge vom Grün normaler Soldaten.
»Wujings«, hört Tamding Suja leise fluchen. Die Flüchtlinge müssen den Chinesen ihre Papiere zeigen. Einer nach dem anderen. Tamding hat keinen Ausweis.
»Zu wem gehört dieses Kind?« fragt einer der Polizisten. Keiner der Flüchtlinge antwortet. Auch Suja nicht. Es ist jetzt besser, so zu tun, als verstünde er die Sprache der Besatzer nicht. Fragend dreht sich Tamding nach Suja um, der sich instinktiv in die Nähe des Guides geschummelt hat. Die beiden Polizisten beratschlagen sich kurz, dann fordern sie die Flüchtlinge auf, wieder in den Bus zu steigen. Alle sind erleichtert und hoffen, daß die Reise weitergeht. Doch dann steigen auch drei der Wujings zu, verteilen sich mit ihren entsicherten Gewehren im Bus. Der Fahrer muß die Türen schließen und den Bus auf der schmalen Straße wenden. Er soll dem schwarzen Polizeijeep folgen. Zwei weitere hängen sich hintendran.
Die Mönche sind stumm. Keiner wagt ein Wort zu sagen. Steif vor Angst sitzt Tamding auf seinem Platz. Neben ihm liegt verwaist Sujas Rucksack und auch der dicke Pullover aus hellbrauner Wolle. Tamding drückt sich an der Scheibe die Nase platt. Auch draußen kann er Suja nicht entdecken. Er reckt den Kopf, hält Ausschau nach dem Guide. Doch der Platz neben dem Fahrer ist leer. Das Ziehen im Bauch tut weh. Suja ist abgehauen. Und auch sein Guide. Jetzt ist gar niemand mehr da, der ihn beschützen könnte.
Die Zelle, die Tamding mit zwölf Mönchen teilt, ist viel zu eng für so viele Leute. Es gibt weder Möbel noch eine Glühbirne oder Kerze. Nicht einmal Matratzen oder Decken. In der Ecke steht ein Plastikeimer für alle. Der Boden ist mit den vertrockneten Fäkalien ihrer Vorgänger beschmiert.
Langsam wird es draußen hell. Durch das gebrochene Glas ihres vergitterten Fensters fällt der frostige Atem eines neuen Tages auf sie herab. Es war also kein Alptraum. Sie sind wirklich Gefangene. Was nun aus ihnen wird, ist ungewiß. Vier Mönche haben die Wärter bereits zum Verhör geholt, sie ruppig vom Boden hochgerissen und aus der Zelle getrieben. Die anderen blieben zurück mit ihrer Angst, die sie statt eines Frühstücks teilten.
Was wollen die Polizisten wissen? Ahnen sie, daß sie auf der Flucht sind? Hat jemand ihre Gruppe verraten? Sitzt der Verräter vielleicht sogar unter ihnen? Und die, die gerade verhört werden – was erzählen sie? Werden sie es schaffen, den Mund zu halten? Oder lassen sie sich von den Schlagstöcken der Polizisten einschüchtern?
Tamding schließt die Augen. Dann kann er die Nähe der Berge spüren. Auf ihren schneebedeckten Pässen sieht er die Gebetsfahnen flattern. Er riecht den Duft von frischem Buttertee, den
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