Flucht über den Himalaya
Militär.«
»Du bist gut informiert.«
»Ich bin Journalistin … Nein. Ich versuche, eine Journalistin zu sein. In Wahrheit bin ich Geschichtenerzählerin.«
»Und was ist deine Geschichte?«
Ich fische ein Stückchen Yakfleisch, das sich unauffällig zwischen meine Nudeln gemogelt hat, aus dem Teller. »Als ich zweieinhalb war, habe ich meine Mutter zum letzten Mal gesehen. Sie ging aus dem Zimmer, und ich wußte, sie würde nie mehr wiederkommen. Seitdem habe ich Angst vor Abschieden. Wann hast du deine Mutter das letzte Mal gesehen?«
»Ich war neunzehn, als ich aus Tibet geflohen bin. Vorher war ich auf der Uni. Ich war einer von ganz wenigen, die es dahin geschafft hatten. Ich war ein guter Student: Chinesisch, Geographie und Geschichte. Aber dann wurde ich in eine Keilerei zwischen tibetischen Studenten und chinesischen Lehrern verwickelt. Danach hatte ich nur noch Schwierigkeiten. Also mußte ich gehen. Ich habe mich nicht von meinen Eltern verabschiedet. Ich dachte, dann wäre es leichter. Ich habe meine Mutter seit sieben Jahren nicht mehr gesehen.«
»Weiß sie, daß es dir gutgeht?«
»Mittlerweile weiß sie, daß ich noch lebe.«
»Und in Indien? Konntest du da studieren?«
»Weißt du, all diese kleinen Kinder, die ins Exil kommen, kriegen eine wirklich gute Ausbildung in den tibetischen Kinderdörfern. Denn für süße Kids spenden die Leute im Westen immer gerne. Aber wer will schon so einen abgefuckten Typen wie mich unterstützen? Hast du die vielen Streetboys in Dharamsala gesehen? Fast alles junge Männer aus Amdo. Sie haben sich voller Hoffnungen über den Himalaya geschleppt – und in Indien war kein Platz für sie. Keine wirklich guten Schulen, keine Jobs, keine Zukunft. Ich habe nichts im Exil gelernt. Außer die paar Worte Englisch.«
»Ist es das, was dich so verbittert?«
»Was bedeutet Leiden schon für einen Menschen, der immer leidet? Es wird irgendwann normal für ihn.«
Wir erreichen ein großes Sherpa-Dorf, das ein beliebter Ausgangsort für Himalaya-Expeditionen ist. Ich habe kein gutes Gefühl. Einige Einheimische kennen mich hier und wissen, daß ich mich gerne abseits der markierten Wege herumtreibe. Ein Glück, daß Sotsi bereits vor der ersten Lodge am Eingang des Ortes anhält und ächzend seinen Rucksack auf den Boden sinken läßt. Hier möchte er übernachten, der Besitzer soll ein Tibeter sein. Wenn ich mir etwas Feineres suchen möchte mit richtigen Matratzen und Internet-Anschluß, bitte. »Nein, nein! Wir bleiben zusammen!« Hastig stolpere ich über die hohe Türschwelle in das Innere des dunklen Hauses.
»Tashi Delek!« Mit offenen Armen kommt uns der Wirt entgegen und schiebt Sotsi, Pema und mich in seine geräumige Wohnküche. In einer mit bunten Teppichen ausgelegten Sitzecke klopft er mir das schönste Kissen zurecht. Die hübsche Frau des Hauses gießt aus einer Karaffe ein milchiges Getränk in unsere Gläser: Chang, tibetisches Gerstenbier.
»Seid ihr verheiratet?« fragt der Wirt. Er meint Pema und mich.
»Nein«, sagt Pema, »wir sind Bruder und Schwester.« Da lacht der Tibeter und drückt mir auffordernd ein Bierglas in die Hand. »Brüder und Schwestern sind wir ja alle! Geht ihr rüber nach Tibet?« Er hat sofort durchschaut, daß wir keine Touristen sind.
»Wir gehen hinauf auf den Paß, um Gebetsfahnen aufzuhängen und für ein freies Tibet zu beten«, antwortet Pema schnell.
»Dann könnt ihr für mich auch welche mitnehmen!« Eifrig füllt er die halb geleerten Gläser meiner Begleiter wieder bis zum Rand. »Ich war vor zehn Jahren das letzte Mal da oben.« Seine Frau bringt Brot und Thukpa, eine kräftige Nudelsuppe mit Gemüse, Ei und Yakfleisch. Suppe ist das beste Nahrungsmittel in den Bergen. Je höher man steigt, desto mehr Flüssigkeit braucht der Körper. Auf dreitausend Metern mindestens drei Liter pro Tag, auf viertausend Metern vier Liter pro Tag, auf fünftausend fünf und so weiter …
»Haben sie auch eine Thukpa ohne Fleisch?«
Während sich der Wirt um meine vegetarischen Sonderwünsche kümmert, hecken Pema, Sotsi und ich den weiteren ›Schlachtplan‹ aus: Morgen nacht gehen wir weiter. Bis dahin hat Sotsi ein paar Drogpa-Männer für unser Gepäck aufgetrieben.
»Und wie werden wir unsere Sherpa los?« fragt Pema leise.
»Morgen früh wird mir plötzlich sehr übel sein«, sage ich. »Du weißt schon: Höhenkrankheit. Deshalb wirst du die beiden jüngeren Sherpa leider aus unserem Dienst entlassen müssen.
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