Flucht über den Himalaya
Gib ihnen genau den Lohn, den sie sich an einem Sechstausender verdient hätten.«
»Und Kelsang?«
»Den nehmen wir mit.«
»Mit seinen dünnen Gummischlappen?!«
»Ich brauche unsere Kasse.«
Pema, der seit Beginn des Aufstiegs auch der Kassenwart des Teams ist, reicht mir unser Portemonnaie aus blauem Goretex. »Mach bloß keinen Blödsinn.«
Schüchtern betreten unsere drei Sherpa den Gastraum. Sie haben im Dorf ein Schwätzchen gehalten, nun treibt sie der Hunger zu uns zurück.
Während Pema die zwei Jungen zu sich an den Tisch winkt, nehme ich Kelsang zur Seite: »Ich will, daß du dir ordentliche Schuhe, Fäustlinge, eine Sturmmütze, eine Sonnenbrille, eine Taschenlampe und eine warme Jacke kaufen gehst. Mach es nicht zu auffällig. Die anderen beiden sollen es nicht mitbekommen. O.k.?« Ich reiche ihm das Portemonnaie. »Wenn du wieder zurück bist, komm bitte auf mein Zimmer. Ich habe etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.«
Mit großer Freude eilt der kleine Mann davon und verschwindet für mehrere Stunden in den engen Läden des Dorfes, wo weißhaarige Sherpa mit den gebrauchten Bergklamotten glamouröser Himalaya-Expeditionen handeln …
Die erste Nacht der Flucht
Endlich haben sie die tiefgefurchten Felder hinter sich gelassen. Der Untergrund, auf dem sie weiterhetzen, ist nun eben und gibt ihren Füßen sicheren Halt. Solange sie sich in der Nähe menschlicher Behausungen aufhalten, müssen ihre Schritte so leise sein wie die einer Katze auf Schnee. Denn hier ist es am gefährlichsten, erwischt zu werden. Die Wachhunde in den Dörfern sind hellhörig. Schlagen sie an, weckt das Verdacht bei den Bauern. Der chinesischen Polizei gelingt es immer wieder, die Menschen in der Grenzregion mit Geld zur Kooperation zu bewegen. Wer Hunger hat, wird schnell zum Verräter. Sogar Chime spürt die Nervosität des Guides, während Dolker zu sehr auf den Weg achten muß. Ama hat gesagt, daß sie nicht stolpern darf.
Dhondup trottet brav neben seinem Bruder, den der Wille, nach Indien zu gehen, Schritt für Schritt verläßt. In der Ferne sind die Lichter der vorbeifahrenden Autos zu sehen. Noch ist die Zivilisation nahe genug, um diese Nacht an einen warmen Herd zurückzufinden.
»Mist«, flucht dieser Typ hinter ihnen: »Wenn ich gewußt hätte, daß das hier so kalt wird!«
»Dabei sind wir noch nicht einmal in den Bergen«, zischt Dhamchoe verzweifelt durch die Zähne.
»Und in Lhasa guckt sich mein Mädchen bestimmt schon nach einem anderen um.«
»Dann solltest du schnell zu ihr zurückkehren!«
»Kommst du mit?«
»Ich muß meinen kleinen Bruder da rüberbringen, hab’ ich schon mal gesagt.«
»Den Kleinen schafft der Guide nach Indien. Keine Sorge, der wird auf Händen durch den Schnee getragen! Aber daß du keine Handschuhe und Socken hast, interessiert da oben keinen mehr.«
»Vielleicht hast du recht.«
Little Pema hat aufgehört, in Nimas Jackenärmel zu schluchzen. Es tut weh, wenn Tränen an der Haut festfrieren. Sie legt den Kopf auf die Schultern ihres Guides und träumt sich langsam weg aus diesem schicksalhaften Tag.
Der erste Teil der Strecke ist immer der härteste, denkt Nima, die Glieder sind steif gefroren von der Fahrt, die Schritte der Flüchtlinge haben keinen Rhythmus gefunden, ihre Augen haben sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt. Ihre Herzen kämpfen mit der Trauer und ihre Sinne mit der Angst vor den Chinesen und der Ungewißheit. Wenn er laut reden könnte, würde er seine Schützlinge aufmuntern: »Glaubt mir, es wird von Tag zu Tag leichter!« Auch wenn es in Wahrheit von Tag zu Tag schwieriger wird. Doch die Seele wächst mit den Anforderungen, die das Leben an sie stellt. Und die Gabe des Wanderers, einen Berg zu besteigen, mit jedem Zentimeter, den er seinem Gipfel näher rückt. Keiner der Flüchtlinge würde die Schneezone in der ersten Nacht der Flucht bewältigen. Der lange Weg dahin wird sie stärken, das Unmögliche zu schaffen. Und Nimas Aufgabe besteht darin, mit Bedacht das Maß zu wählen, das er seiner Gruppe Tag für Tag zumuten kann. Am stärksten sind immer die Flüchtlinge, für die es keinen Weg mehr zurück gibt. Denn was für einen Sinn hat es, die Kälte und den Schnee zu hassen, wenn man ohnehin nicht an ihnen vorbeikommt? Man muß sich mit der Natur befreunden. Dieser Suja hat mit der Heimat abgeschlossen. Als erfahrener Guide spürt Nima schnell, wer in der Gruppe noch eine Geschichte offen hat. Am härtesten wird der Aufstieg für
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