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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Blumencron
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dritte Nacht ihrer Flucht, und Lobsang ist wütend auf Currasco und Tempa. Die beiden jungen Männer denken nicht daran, ihn abzulösen – seit Stunden schleppt er die Last ihrer Decken. Streit deswegen anzufangen wäre zu gefährlich, denn sie haben das enge Tal wieder verlassen und wandern nun auf offener Straße weiter in Richtung Westen. Der Asphalt könnte eine Erholung für die strapazierten Fußsohlen sein, doch Nima treibt die Gruppe im Laufschritt voran. Normalerweise meidet der Guide größere Straßen. Doch sie müssen heute noch auf die andere Seite des Flusses gelangen. Der alte Paala hatte sie vor der schmalen Hängebrücke hinter seinem Dorf gewarnt: Der Winter war sehr streng, zu viele Bretter sind nun morsch. Sie werden den Fluß über die Autobrücke queren müssen. Dem Stand des Mondes nach müßte es jetzt drei Uhr morgens sein. Unwahrscheinlich, daß um diese Zeit Fahrzeuge über die Landstraße rollen. Trotzdem wissen die Flüchtlinge Bescheid: Sobald in der Ferne Scheinwerfer aufleuchten, wird Nima »nach rechts« oder »nach links« rufen. Und dann werden sie alle gemeinsam so schnell wie möglich abseits der Straße Deckung suchen.
    Nimas Tempo macht Lobsang zu schaffen. Am liebsten würde er sich an das Ende der Gruppe fallen lassen, doch Suja läßt seit dem Verschwinden von Dhondups Bruder und dem Lhasa-Boy niemanden mehr aus seinem Blickfeld. Also muß der junge Mönch seinen ganzen Mut zusammennehmen, um die rücksichtslosen Kameraden auf seine Notlage aufmerksam zu machen: »Currasco, Tempa, kann einer von euch die Decken übernehmen? Ich bin bald am Ende meiner Kraft!«
    »Wir haben jetzt keine Zeit zum Umpacken, merkst du nicht, daß der Guide unter Druck steht?« zischt Currasco unwirsch zurück.
    Obwohl ein Buddhist Mitgefühl für seine Widersacher empfinden sollte, flucht Lobsang innerlich auf diese ›Drecks- kerle‹: Gleich knalle ich die schweren Decken in den Straßengraben, und dann können sie sich da oben den Po abfrieren! Daß sein Hinterteil dann auch gefährdet wäre, ist eine schicksalhafte Verstrickung, über die es sich schon wieder zu meditieren lohnt. Ist es sein Karma, unter der Last dreier Decken zusammenzubrechen? Wird er die Flucht nach Indien aufgeben und ins Kloster zurückkehren müssen? Vermutlich stellt dort die Polizei gerade alles auf den Kopf, um ihn aufzuspüren! Ist es sein Karma, als politischer Häftling zu enden? Den Mut, vor den Funktionären zu seinen inneren Werten zu stehen, hatte er aufgebracht. Warum fehlt ihm jetzt die Courage, für sein Recht zu kämpfen?
    Er war immer ein guter Junge. In seinem Heimatdorf nannte man ihn ›Lobsang, den Braven‹. Es war ihm wichtig, daß die Eltern zufrieden mit ihm waren. Und als seine Mutter sagte: »Du gehst ins Kloster«, hat er nicht darum gebettelt, zu Hause bleiben zu dürfen. Er hat sich sogar gefreut, weil ein Mönch nicht von den Mühen des alltäglichen Lebens aufgerieben wird und seine Zeit darauf verwenden darf, der Menschheit mit seinen Gebeten zu helfen. Die anderen jungen Mönche weinten in den Armen der alten Lamas, wenn sie Heimweh hatten. Lobsang kletterte auf einen der hohen Berge, die das Kloster wie ein Schutzwall umsäumten. Von dort aus konnte er das Haus seiner Eltern sehen. Manchmal sogar ihre Gestalten! Wenn Paala auf seinem Fahrrad das Haus verließ, oder Amas Chuba, die zwischen der frisch gewaschenen Wäsche im warmen Wind des Sommers flatterte. Dann weinte auch er.
    Seine Ama hatte zwei Chubas. Eine braune, eine grüne und für die Festtage eine Bluse aus rosa Seide. Sie legte großen Wert auf Sauberkeit und achtete immer darauf, daß ihre Kinder keinen Schmutz unter den Fingernägeln hatten. Und sein Paala, der Förster ihres kleinen Ortes, bepflanzte die Straßenränder mit Sträuchern und Bäumen. Denn das sieht freundlich aus und spendet Schatten im Sommer …
    »Alle nach rechts!« ruft der Guide, als sie schon fast die Autobrücke erreicht haben. Nima zieht die Gruppe mit sich über eine steile Böschung hinab unter die Brücke. Nur Lobsang – so plötzlich aus seinen Erinnerungen gerissen – rennt kopflos nach links. Zu spät bemerkt er den steilen Abgrund. Er versucht zu bremsen, verliert das Gleichgewicht, stolpert und fällt und fällt, er dreht sich in der Luft und fällt. Rücklings landet er auf den fest geschnürten Decken. Starr vor Schreck liegt er auf dem steinernen Boden, wie ein benommener Käfer. Er bekommt keine Luft mehr. Vier Meter über ihm rauscht

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