Fluegel der Dunkelheit
Mohrenstraße an der
Mittelinsel. Die nachfolgenden Autos hupten, fuhren dann aber vorbei.
Hastig riss Sergiu die Autotür auf, öffnete die hintere Tür und
half Traian mit angewinkelten Beinen auf die Rücksitzbank zu legen.
»Ich geh zu ihm.«
Liana kniete sich in den Fußraum. Sie fühlte am Handgelenk nach dem
Puls, fand aber nichts.
Victor wandte sich
auf dem Beifahrersitz zu Liana um. »Er ist vorhin mit einem Auto
zusammengestoßen. Hat er sich vielleicht dabei verletzt?«
Ihre schlimme
Ahnung! Sogleich hatte sie das Bild aus dem Traum wieder vor Augen.
Weg mit diesem Gedanken. »Das kann ich momentan noch nicht sagen.«
Erneut überprüfte sie seine Pupillenreflexe. Die Rechte war extrem
geweitet, die linke stark verengt. Sie ließ sich von Victor eine
kleine Taschenlampe aus ihrem Handschuhfach geben. Sie warf den
Lichtschein direkt auf die Pupillen. Wie sie angenommen hatte,
reagierten die Pupillen verlangsamt.
Das sah gar nicht
gut aus. Hier im Auto gab es nichts, was sie für ihn tun konnte.
»Wir müssen mit
ihm sofort ins Krankenhaus. Sein Zustand ist ernster, als ich
befürchtet habe.« Möglicherweise hatte der Zusammenstoß mit dem
Auto eine Hirnblutung ausgelöst.
»In die Charité?«,
vermutete Sergiu.
Liana bestätigte
mit einem kurzen Ja. Sie musste jetzt logisch vorgehen. Am Hals
sollte sie den Puls aber fühlen. Zischend sog sie Luft ein.
»Was ist?«, fragte
Victor gespannt.
Liana beugte sich
über Traian, so gut es in der Enge der Rücksitzbank ging. »Ich
habe mich nur erschreckt.«
Victor klang unruhig
»Und worüber?«
»Ich glaube«, das
konnte ja dann nur noch aus der Zeit seiner Gefangenschaft stammen.
»Man hat ihm einen Shunt gelegt.« Liana sah Victor nur kurz an,
fuhr mit ihrer Untersuchung fort. »So was muss regelmäßig
kontrolliert werden.« Liana fragte sich, welchen Sinn das Ding bei
Traian erfüllen sollte. Seit mindestens drei Jahren rannte er damit
herum.
»Einen was, bitte?«
Sergiu sah in den Rückspiegel.
»Ein Shunt ist ein
Schlauch, der unter die Haut geschoben wird, um überflüssigen
Liquor in die Bauchhöhle abzuleiten, zum Beispiel bei Hydrocephalus,
auch bekannt als Wasserkopf. Allerdings bezweifle ich, dass dieser
Shunt dafür gedacht war.«
Victor schaute die
ganze Zeit nach hinten. »Und was bitte ist Liquor?«
Liana wollte gerade
antworten, da setzte ihr Herz einen Schlag aus. »Verdammt! Er atmet
nicht mehr.« Sie legte ihre Hände auf seine Wangen, »Komm schon
Traian, atme!« Sie zog mit ihren Daumen seinen Mundwinkel
auseinander. Traian reagierte nicht. Liana fühlte sich selbst, als
würde sie keine Luft mehr bekommen. Sie legte Traians Kopf in den
Nacken, hielt ihm die Nase zu und begann, seine Lungen mit Luft zu
füllen. Es lag nun an ihr, ihn so lange zu beatmen, bis sie die
Klinik erreichten.
»Warum atmet er
nicht?«, Victors Stimme klang fremd. Vermutlich sorgte er sich nicht
weniger um Traian, als sie.
»Das kann ich hier
nicht herausfinden.« Liana machte eine winzige Pause. »Es bedeutet,
dass sein Körper aufgehört hat, normal zu funktionieren.« Sie
wandte sich Traians Beatmung zu, das Einzige, was ihn jetzt am Leben
hielt.
»Es sind nur noch
ein paar Straßen, dann sind wir da.« Sergiu schaute sich nur kurz
um.
Liana pausierte für
einen Moment. »Victor. Du musst die Leute in der Notaufnahme davon
überzeugen, dass Traian keine besonderen Körpermerkmale aufweist.
Ich möchte ihn uneingeschränkt untersuchen können, ohne dass mir
lästige Fragen von den Kollegen gestellt werden.« Sie blies Traians
Lunge auf. »Nimm mein Handy und wähle die Klinik, ist gespeichert.«
Jetzt atmete sie selbst tief durch, presste danach ihre Lippen über
Traians Mund. Sie hoffte, Traian würde zumindest wieder selbständig
atmen, aber sie wusste, dass dieser Wunsch unter den Symptomen ein
Wunder wäre. Ihn in diesem Zustand zu wissen, schien ihr Herz zu
zerreißen.
Victor tippte auf
den Tasten des Handys herum, legte dann Liana das Telefon ans Ohr.
Nach zwei Atemzügen für Traian sprach sie, »Majewski. Komme mit
Notfall im privaten Wagen. Patient muss intubiert werden.« Sie
schnappte nach Luft. »Ich brauche ein CT und den großen OP.« Sie
wandte sich Traians Beatmung wieder zu. Zwischendurch gab sie Sergiu
Anweisungen, wohin er auf dem Gelände fahren sollte. Als Sergiu vor
dem Eingang der Notaufnahme anhielt, standen bereits drei
Krankenpfleger mit einer fahrbaren Liege zur Stelle. Ehe Sergiu
ausgestiegen war und zugreifen konnte,
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