Fluegelschlag
glitzerten wie echte Sterne an einem tropischen Nachthimmel.
»Es ist schon spät!« Er erhob sich und reichte ihr die Hand.
Juna blinzelte verschlafen. Draußen ging gerade die Sonne auf und tauchte die Welt in unschuldiges Morgenrot. Alles um sie herum wirkte fremd, und das Erste, was sie neben sich im Bett liegen sah, war Arians sündhaft makelloser Körper. Er lag ausgestreckt da, ein Kissen im Arm, und wäre da nicht seine Präsenz gewesen, die Juna mangels einer besseren Bezeichnung Aura nannte, hätte sie geglaubt, er sei tot, so still lag er.
Seine Muskulatur war sorgfältig modelliert, aber sie hatte keine Ähnlichkeit mit den schweren Muskelmassen, die bei täglichen Besuchen eines Fitnessstudios geformt wurden. Arian wirkte trotz der breiten Schultern schlank, die Knochenstruktur
langgestreckt und elegant. Die Proportionen seiner Gliedmaßen waren ausgewogen. Seine Haut sah unglaublich glatt aus und hätte ihn jünger erscheinen lassen müssen, und der goldene Schimmer, den sie von Anfang an bewundert hatte, war natürlich und keineswegs der Sonne zu verdanken. Wie lange hätte ein Bildhauer gebraucht, um diese Vollendung zu erreichen? Ein ganzes Leben, ein Millennium, die Ewigkeit?
Trotz all dieser Attribute besaß er keinerlei Ähnlichkeit mit einer dieser androgynen Männergestalten, die die Laufstege bevölkerten und neuerdings ein weit verbreitetes Schönheitsideal verkörperten. Selbst im Schlaf strahlte er eine ziemlich unheilige Männlichkeit und Kraft aus, die Juna magisch anzog, obwohl sie noch vor wenigen Tagen geschworen hätte, dass ihr Äußerlichkeiten bei einem Menschen vollkommen gleichgültig waren. Doch neben ihr ruhte kein Mensch, sondern ein Engel. Als sie ohne nachzudenken die Hand nach ihm ausstreckte, um über die zusammengefalteten Flügel zu streichen, zitterten ihre Finger. Juna zog sie hastig zurück. Sie wollte ihn noch nicht wecken, wollte seinen Anblick noch etwas länger ungestört genießen. Niemand, der einigermaßen bei Verstand ist, könnte dieser Versuchung widerstehen , versuchte sie sich selbst zu beruhigen.
Und dann fiel ihr Blick auf die Schwertwunde - oder vielmehr auf die Austrittsstelle neben seinem Schulterblatt. Dabei kam ihr in den Sinn, wie nachlässig sie gewesen war, den Heilungsprozess nicht regelmäßig zu kontrollieren. Nicht einmal den Verband hatte sie gewechselt, gestand sich Juna schuldbewusst ein, obwohl sie ahnte, dass Arians Magie an dieser Vergesslichkeit nicht ganz unbeteiligt sein dürfte. Er hatte ihr erzählt, wie leicht es für Engel war, einen Menschen
zu manipulieren. Die Vorstellung, wie eine Marionette an unsichtbaren Fäden geführt zu werden, hatte sie entsetzt, bis er ihr versprach, diesen Zauber nicht auf sie anzuwenden. Warum sie ihm glaubte, wusste Juna selbst nicht genau zu erklären. Vielleicht , überlegte sie beim Anblick des Schlafenden, liegt es daran, dass auch er mir vertraut. Arian so ungeniert zu betrachten verletzte genau genommen dieses Vertrauen. Leise meldete sich ihr Schuldbewusstsein, doch Juna tat das Gefühl schließlich mit einem Schulterzucken ab. Eine erwachsene Frau, dachte sie, darf doch wohl einen Mann in Ruhe betrachten, neben dem sie die ganze Nacht geschlafen hat . Ihr Gewissen war damit keineswegs beruhigt, doch der Anblick einer Tätowierung, die unter dem verrutschten Verband hervorsah, lenkte sie ab. Anstelle einer Narbe bedeckte ein kunstvolles Muster die Schulter. Filigrane Ornamente schlängelten sich bis zum Oberarm und über die Schulter hinweg auf den Rücken, wo sie zweifellos auch die Austrittsstelle des Schwerts bedeckten. Dies allein war schon bemerkenswert genug, denn Juna wusste von Iris, dass ein Tattoo gewissenhaft gepflegt werden musste und erst nach einigen Wochen oder Monaten aussehen konnte wie dieses.
Wirklich erstaunlich fand sie allerdings, dass es sich wie ein lebendiges Wesen verhielt. Die Motive auf Iris’ Körper wirkten in ihrer Farbigkeit lebhaft genug, aber hier hätte sie nicht einmal sagen können, welche Farbe das Muster hatte - nur dass es sich wie ein schlafendes Tier unter seine Haut zurückgezogen hatte. Ehe sie noch nachdenken konnte, beugte sie sich vor, um genauer sehen zu können … und schrak sofort mit einem kleinen Schrei zurück, als Arians Arm hervorschoss und sie gefangen nahm.
»Guten Morgen!« Seine sinnliche Stimme brachte die Schmetterlinge in ihrem Bauch vollends in Aufruhr, bis sie das Feld für etwas sehr viel Gefährlicheres räumten.
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