Flüsterherz
ich noch keine hab und wie das weitergehen soll. Die Lehrer haben’s ihm wohl gesteckt. Jetzt will er meine Eltern anrufen. Und zu mir hat er gesagt, ich soll mir fünf Lösungen für das Problem überlegen. So ein Quatsch!«
»Hast du denn inzwischen mal wegen der Bücher nachgefragt?«
»Das hat keinen Sinn. Wann kapierst du das endlich?«, fuhr sie mich an.
»Hör mal, Tibs, ich will dich nicht … äh … nerven«, sagte ich und drückte mir im Stillen die Daumen, dass sie nicht ausrasten würde. »Aber vielleicht ist schon beim Bestellen was schiefgegangen.«
Ihre kohlrabenschwarzen Augen glühten und ihre Haut lief dunkelrot an. Dann platzte sie los, wie der Ätna persönlich, vor allen anderen auf dem Schulhof. »Weißt du was? Wenn JP so superschlau ist, dann soll er sich doch selber Lösungen ausdenken! Was kann ich denn dafür, dass meine Eltern ständig blank sind, dass wir in ’ner alten Bruchbude wohnen, wo der Putz von den Wänden springt, dass meine Ma bloß Kaufladen spielt und nie was einnimmt, dass ich sogar um Geld fürs Einkaufen betteln muss und dass mich in der Schule alle schief angucken? Fünf Lösungen – so ein Quatsch! Ich weiß keine einzige!« Sie stampfte zornig auf.
Ich erschrak bis ins Mark. »Tut mir leid, Tibby, so hatte ich das nicht gemeint.« Ich stockte. »Aber wer guckt dich denn schief an?«
»Vergiss es. Du kannst auch nichts ändern«, sagte Tibby. Sie wischte sich die Augen.
Ich legte den Arm um sie.
Sie zitterte.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Nein!«, fauchte sie. »Weil es nämlich keine Lösung gibt und schon gar keine fünf. Am liebsten würd ich mich davonmachen, dann hätt ich endlich Ruhe.«
»So schlimm ist es doch auch wieder nicht. Die Sache mit den Büchern wird sich schon klären. Und niemand guckt dich deswegen schief an.« Sanft versuchte ich, sie zu den anderen zu ziehen, aber sie riss sich los.
Ich verstand nicht, weshalb sie so einen Aufstand machte. Nur wegen der paar Bücher.
»Hast du das alles auch JP erzählt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Das solltest du aber. Vielleicht bringt es ja was, wenn er mit deiner Mutter redet.«
»Du kennst sie doch!«
Was wollte sie damit sagen? Die paar Male, die ich Sharima getroffen hatte, war sie supernett gewesen. Klar, sie war ziemlich dominant, das ließ sich nicht leugnen. Aber Tibby war schließlich auch nicht auf den Mund gefallen und gab ihrer Mutter tüchtig Kontra.
»Dann soll eben Jeff dir helfen«, sagte ich. »Ihr versteht euch doch prima.«
»Der ist fast nie da. Immer unterwegs. Mit MaiZZ oder irgendwelchen Freunden. Und wenn er mal da ist …« Sie brach ab.
Ich wusste Bescheid: Musik, Joints, Whisky … Nein, das brachte wohl eher nichts.
»Dann such dir einen Job. Zeitungen austragen, wie wär das? Oder in einem Klamottengeschäft aushelfen. Dann kriegst du auch gleich Rabatt.«
»Als ob ich für so was Zeit hätte! Hast du eine Ahnung, wie lange ich für die dämlichen Vokabeln brauche? Stundenlang hab ich gelernt!«
»Stundenlang?« Das konnte ich mir kaum vorstellen.
»Na gut, ’ne halbe Stunde, ’ne Viertelstunde … was soll’s.«
»Lange ist das aber nicht gerade«, sagte ich.
»Lange genug. Ich vergess sie ja eh gleich wieder. Hör jetzt auf, Anna, ja? Ich weiß, du meinst es gut, aber das nützt mir nichts.«
Sie starrte so trübselig auf ihre Schuhe, dass ich vor Mitleid zerfloss.
Plötzlich fiel mir der Reifen ein.
»Übrigens, wir haben was für dich! Etwas, das du gut gebrauchen kannst.« Ich hoffte, sie würde neugierig werden, sich vielleicht sogar freuen, endlich mal wieder ein vergnügtes Gesicht machen.
»Was denn?«
»Es ist eine Überraschung«, sagte ich. »Komm mit. Wir lassen dich schon nicht hängen, Tibs.«
Vergnügt wirkte sie nicht, aber sie ließ sich von mir mitziehen. Langsam, als würden ihre Füße am Boden kleben.
»Hi, Tibby! Alles klar?«, rief Lianne.
»Schön, dass du zu uns kommst«, sagte Jeske.
Eileen lächelte ihr zu.
»Wie gesagt, wir haben was für dich«, begann ich. Rasch holte Eileen das zerknitterte Päckchen hervor und überreichte es Tibby mit stolzer Miene. »Das verrückteste Geschenk, das du je bekommen hast«, sagte sie.
Ich musste lachen.
Tibby öffnete das Päckchen.
»Danke«, murmelte sie mit gesenktem Blick.
»Dein Pa kann dir den Reifen bestimmt draufmachen«, meinte Jeske.
Tibby zog die Augenbrauen hoch, als hätte Jeske gerade etwas furchtbar Dämliches gesagt. »Mal sehen«, nuschelte sie.
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