Flüsterherz
scharfen Verstand wie du. Aber was machst du daraus? Den Unterricht stören, deine Lehrer provozieren, den Clown spielen. Und nun frage ich dich: Was bringt dir das? Nichts, absolut nichts!«
»Das sagen Sie …«
»Gut, dann antworte du: Was bringt es dir?«
»Gute Frage. Ich sitze hier die Zeit ab und warte. Wenn wir eine einzige Stunde am Tag wirklich was lernen, dann ist das schon viel. Haben Sie zum Beispiel gewusst, dass Jean-François Champollion in meinem Alter schon fünfzehn Sprachen konnte? Das ist der Typ, der die Hieroglyphen entziffert hat.«
JP nickte.
»Was haben die Lehrer denn für ein Problem? Ich mache im Unterricht doch keinen Lärm«, fuhr ich fort. »Und trotzdem werfen die mich raus. Mir geht es echt nicht darum, sie zu ärgern, und ich nehme mich auch gewaltig zusammen, aber manchmal rutscht mir eben so ein Gedanke raus. Ganz ehrlich: Im Moment hab ich keine Ahnung, was mir die Schule bringt.«
»Darum geht es auch nicht, Anna«, sagte JP. »Ich habe dich gefragt, was dein Verhalten dir bringt. Nicht die Schule an sich.«
Wie bitte? Was war das denn für eine Frage? Ich ärgerte mich, presste aber die Lippen zusammen, damit ich nichts Unbedachtes sagte.
»Du musst das anders sehen: Die Schule ist eine Notwendigkeit. Es gibt nun mal eine Schulpflicht und daran führt kein Weg vorbei. Dein Verhalten allerdings ist eine Variable, die du selbst in der Hand hast. Wie du auf eine Situation reagierst, entscheidest du ganz allein. Du bist sehr intelligent, wie ich schon sagte, und diese Gabe solltest du dazu nutzen, dein Verhalten zu überdenken und etwas daran zu ändern. Überleg dir, was du an Möglichkeiten hast.«
Ach, jetzt lag auf einmal alles an mir! JP machte es sich leicht.
»Wie haben Sie das Problem denn für sich gelöst, Herr van Dijk?«
»Wenn du es unbedingt wissen willst: Ich habe Drogen genommen und kurz vorm Abitur die Schule geschmissen. Dann habe ich mir einen Job gesucht, bei einem Jaguar-Händler. Ich habe Maßanzüge getragen, reichen Kunden Autos verkauft und dabei ziemlich gut verdient. Ich hatte einen Dienstwagen zur Verfügung und jedes Wochenende war Party angesagt. Alles lief wie geschmiert, und ich hielt die anderen, die es nicht so machten wie ich, für kümmerliche Versager. Bis ich den teuren Wagen eines Nachts zu Klump gefahren habe. Ich flog aus der Kurve und landete im Krankenhaus. Während der Reha hatte ich jede Menge Zeit zum Nachdenken. Ich saß noch im Rollstuhl, als ich wieder zu lernen anfing. Dann habe ich auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachgeholt, und als ich mit vierundzwanzig wieder einigermaßen hergestellt war, habe ich ein Pädagogikstudium begonnen.«
Ich war perplex. »Ist das der Grund, warum Sie ein wenig hinken?«
Er nickte.
»Ja. Und ich bin froh, dass das Ganze für mich so glimpflich ausgegangen ist.«
»Wissen Sie, das die Fünftklässler darüber Witze machen? – Oh, Verzeihung!« Ich hielt mir die Hand vor den Mund. Was hatte ich dumme Nuss da wieder gesagt!?
Aber JP grinste. »Das ist mir bekannt.«
Die niedrig stehende Novembersonne fiel durch die Gardinen. Allmählich wurde mir klar, was JP meinte. Im Grunde blieb mir keine Wahl. Die Schulpflicht war ein Muss, undwenn ich sie umgehen wollte, könnte ich mich lediglich dauerkrank stellen, kriminell werden (damit ich im Jugendknast landete) oder mich umbringen. Das war’s. Mein Reisebüro war vorerst jedenfalls keine Option.
»Sie meinen also, ich bin hier mehr oder weniger eingesperrt und muss mich mit der Situation abfinden?«
»In gewissem Sinne, ja«, sagte JP. »Mit Widerstand erreichst du rein gar nichts. Du hast ein Problem mit der Schule und für jedes Problem gibt es mindestens fünf Lösungen. An Intelligenz mangelt es dir nicht, also sei kreativ: Überleg dir, was du willst und wie sich das am besten erreichen lässt, und besprich das Ganze mit deinen Lehrern. Und dann heißt es durchhalten.«
JP sah mich freundlich an. »Ich habe immer ein offenes Ohr für dich, Anna«, sagte er. »Du kannst jederzeit kommen, auch wenn es um deine Freundin geht. Es wäre mir allerdings lieb, wenn dein nächster Besuch hier nicht durch eine Lehrerbeschwerde veranlasst wird.«
Er setzte die Brille wieder auf und nahm seinen Stift zur Hand. Die Sitzung war offenbar beendet.
Ich nickte höflich und stand auf.
»Eine Sache noch, Anna«, sagte JP. »Falls es dich interessiert: Champollion hat von seinem älteren Bruder Unterricht bekommen. Aber das kommt für dich
Weitere Kostenlose Bücher