Flüsterherz
Abschreiben eine gute Idee ist.«
»Hallo? Hast du meine Noten gesehen?« Sie lächelte.
»Aber ich finde es nicht in Ordnung.«
»Hast du wieder mal eine Musterschülerattacke?«
»Quatsch. Aber wenn wir erwischt werden, gibt’s Ärger.«
Das Lächeln erlosch.
»Verstehe«, nuschelte sie. »Wenn du nicht willst, musst du mir natürlich nicht helfen. Ich komm schon irgendwie klar. Muss ich eben wieder bis Mitternacht Vokabeln lernen.«
»Ich kann dich gern abhören. Ich will nur nicht …«
»Bemüh dich nicht!«, sagte sie kühl. »Gib ruhig zu, dass du mich allmählich satthast.«
»Darum geht’s doch nicht, Tibs! Ich hab nicht
dich
satt, sondern die Abschreiberei.«
»Tut mir leid, wenn ich dich belästigt hab. Ich dachte, wir hätten das abgemacht. Scheint aber nicht so.«
Sie fragte an diesem Tag nicht, ob ich mit ihr nach Hause käme. Und am nächsten auch nicht.
Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, wollte aber nicht klein beigeben, nur um bei den niedlichen Katzen zu sein und mit Tibby zusammen neue Rezepte auszuprobieren. In letzter Zeit hatten wir öfter warmen Apfelsaft mit Zimt gemacht und der schmeckte zu Hause lange nicht so gut wie bei ihr in der Wohnküche.
Beim Französischtest am übernächsten Tag seufzte Tibby zum Steinerweichen, sodass ich sie doch wieder abschreiben ließ. Sie zwinkerte mir erleichtert zu und flüsterte: »Anna, du bist die beste Freundin aller Zeiten!«
Die Bonamour merkte zum Glück nichts, aber seltsamerweise störte mich genau das. So konnte es einfach nicht weitergehen.
4
Der Dezember begann grau und regnerisch, dann aber gab es einen Lichtblick. In der Pausenhalle hing auf einmal ein Riesenplakat:
Die Hundertjahrfeier unserer Schule war mittlerweile ein Running Gag. Schon vor ewigen Zeiten war ein Künstler beauftragt worden, eine Skulptur für diesen Anlass zu gestalten. Weil sie nicht rechtzeitig fertig geworden war, wurde die Feier zweimal verschoben. Inzwischen war fast ein Jahr vergangen und über das verunglückte Event wurden allenfalls noch Witze gerissen.
Aber nun war es endlich so weit: Das Fest konnte steigen. Am liebsten hätte ich mich sofort für den Ausschuss angemeldet. Aber als ich Dannys Namen sah, ließ ich es.
Am übernächsten Morgen war ich spät dran. Es goss in Strömen und ich hatte meine Regenhose nicht finden können. Schon nach ein paar Metern war ich völlig durchweicht. Da klingelte mein Handy. Ich stieg vom Rad, um es aus der Jackentasche zu graben.
Tibby hatte mir eine SMS geschickt:
Schon beim Lesen krampfte sich mein Bauch zusammen. Der fiese Fred hatte es dermaßen auf mich abgesehen, dass er bei meinem bloßen Anblick ins Spucken verfiel. Wenn er mich nun auch noch beim Schummeln erwischte, würde er einen Wutanfall bekommen, der jede bisherige Phase IV in den Schatten stellte, das war sicher.
Ich mach’s nicht, dachte ich. Ich muss das nicht!
Aber was würde passieren, wenn ich Tibby nicht half? Ich sah Whisky und Wodka vor mir, wie sie, dicht aneinandergeschmiegt, auf dem Brotschneidetisch lagen. Ich roch den glückselig machenden Duft von Geißblatt, Rosen und Äpfeln im Schlafrock. Tibby war meine Freundin, und wenn ich sie nun hängen ließ, würde sie garantiert nichts mehr von mir wissen wollen. Dann wäre all das Schöne, was ich bei ihr zu Hause so genoss, für immer verloren.
Was würde Sam an meiner Stelle tun? Oder Eileen? Eileen würde sagen: »Was soll’s. Wenn Tibby ihre Arbeiten verhaut, wiederholt sie das Schuljahr eben.« Aber Eileen hatte schließlich nichts zu verlieren. Ihr Bauch sah die Dinge ganz anders als meiner.
Ich mach’s nicht, ich mach’s nicht, ich muss das nicht!
Den ganzen Weg zur Schule wiederholte ich diesen Satz, wie ein Mantra, bis ich Kopfschmerzen davon bekam. Und allmählich begann ich, meinem Bauchgefühl zu trauen. Ich hatte es selber in der Hand.
Als ich die Schule erreichte, brach gerade die Sonne durch die Wolken, und mein Entschluss stand fest: Tibby sollte mit JP über ihre Probleme sprechen. Ich war für ihre Noten nicht zuständig und hatte das Recht zu tun, was ich für richtig hielt.
Das Pflaster dampfte. Für einen Moment genoss ich die Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Dann betrat ich die Schule, triefend und viel zu spät, aber bester Laune, weil ich mir meiner Sache endlich sicher war.
Mein Blick fiel auf das Plakat in der Pausenhalle. Jemand hatte in Großbuchstaben HEUTE = DONNERSTAG! dazugeschrieben, und auf einmal schien es mir
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