Flüsterherz
mein Ehrgefühl brauchten auch nicht durch den Regen zu radeln und hatten daher leicht reden.
Also nach Hause.
Ich trat in die Pedale.
Der Regen wurde stärker, und ich begann, in meinem kurzen Rock erbärmlich zu frieren.
Der Abend hatte so vielversprechend angefangen, und jetzt das. Pa und Ma würden mich zur Schnecke machen, weil ich trotz ihres Verbots in die Disco gegangen war. Vielleicht durfte ich zur Strafe nicht mit nach Ägypten, sondern musste zu irgendeiner grässlichen Großtante, bei der es nur Rohkost zu essen gab. Oder sie nahmen mich zwar mit, zwangen mich aber, dort einen steinalten zahnlückigen Scheich mit Siebenfachkinn zu heiraten. Oder …
Nach zwanzig Minuten hatte ich, völlig durchgefroren, unsere Straße erreicht. Die ordentlichen Häuser raunten »Schande über dich!« und blickten mich eisig-verächtlich an. Ich murmelte, sie sollten die Klappe halten.
Ich hatte Glück. Bei uns waren alle Lichter aus. Vielleicht konnte ich unbemerkt ins Haus schleichen, mir die verschmierte Farbe vom Gesicht waschen und schnell den Discogeruch abduschen. Wenn sie das Wasser rauschen hörten, könnte ich sagen, ich hätte mich mit Tibby gestritten, was ja auch stimmte. Und falls sie mich vorher, in diesem Aufzug, erwischten, könnte ich eventuell behaupten, wir hätten uns zum Spaß geschminkt und aufgebrezelt. Eine etwas dünne Ausrede, aber besser als nichts.
Ich schob das Rad in den Gartenschuppen und tastete in der rechten Jackentasche nach dem Hausschlüssel.
Dann in der linken Jackentasche.
Und in der Innentasche.
Vor Kälte waren meine Finger ganz steif.
Ich suchte sogar in der kleinen Handytasche, die ich normalerweise gar nicht benutzte.
Nichts.
Wider besseres Wissen ging ich zur Hintertür. Sie war natürlich abgeschlossen.
Ich überlegte fieberhaft: Wo hatte ich den Schlüssel zum letzten Mal gesehen?
Bei Tibby, in der Tasche mit meinen Sachen.
Oder doch nicht? Mir kamen Zweifel. Wahrscheinlicher war, ich hatte ihn in meiner Jackentasche mitgenommen.
Vor meinem inneren Auge sah ich den Berg Jacken an der Garderobe im
Sisters
. Er musste rausgefallen sein und lag nun dort auf dem Fußboden im Schmutz. Aaarghhh!
Bedrückt setzte ich mich auf den niedrigen Sims am Wohnzimmerfenster.
Du musst einen kühlen Kopf bewahren. Bloß nicht heulen jetzt. Stark sein. Nicht den Mut verlieren. Für jedes Problem gibt es fünf Lösungen. Überleg dir, was du an Möglichkeiten hast …
Lösung 1
Am einfachsten wäre, ich riefe Sam an, damit er mich reinlässt. Früher hätte ich das ohne Zögern gemacht. Inzwischenaber war Sam ein braver Musterknabe geworden. Erst hatte er Pa und Ma die Sache mit der Christmas-Party verraten und mich dann auch noch erpresst, seinen Becher zu kleben. Wenn ich ihn jetzt auf dem Handy anrief, würde er mir garantiert monatelang seine Jobs aufs Auge drücken. Dann müsste ich Wäsche zusammenlegen und Rasen mähen, während er dafür auch noch Geld einsackte. Und vor allem müsste ich bis ans Lebensende blöde Anspielungen über mich ergehen lassen und mir anhören, wie dankbar ich ihm als großem Bruder doch sein sollte. Als Rache konnte ich Löcher in seine Boxershorts schneiden und seinen heiß geliebten Elmo- Becher zerschmeißen, aber was brachte das? Bestenfalls lief es auf einen langwierigen Grabenkrieg hinaus. Kam nicht infrage.
Lösung 2
Im ersten Stock war ein Fenster offen. Wenn ich all meinen Mut zusammennahm, könnte ich es schaffen. Ich müsste an der Regenrinne hochklettern, über das Flachdach der Küche gehen und dann ganz leise einsteigen. Aber leider war es das Schlafzimmerfenster von Pa und Ma. Ergo: nicht ungefährlich, da ziemlich hoch, und mit steif gefrorenen Fingern umso schwieriger. Wenn ich abstürzte, hatte ich ein Problem. Schlimmste Folge: Hals gebrochen, Beine gebrochen, kein Ägyptenurlaub, stattdessen monatelang Hausarrest. Kam ich unbeschadet aufs Dach und ins Haus und sie wachten auf, würden sie mir ellenlange Vorträge halten und mich womöglich in ein Erziehungslager stecken. Das hieß: nie mehr in dieDisco, nie mehr zu einem Auftritt von Easy. Dieser Plan kam also noch weniger infrage als der erste.
Lösung 3
Zu Hause anrufen und sagen, ich läge irgendwo verletzt am Straßenrand und sie sollten mich bitte holen. Garantiert würden Pa und Ma sofort kommen, wahrscheinlich im Schlafanzug. Je schlimmer ich dran war, desto weniger würden sie mir Vorhaltungen machen. Aber das bedeutete: Ich müsste mir selbst eine schlimme
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