Flugasche
überschreiten, blieb. Vielleicht waren sie schon süchtig, nicht im Sinne der Medizin, aber süchtig nach der Leichtigkeit, dem Schwebezustand, dem Zustand der Kinder, in den sie sich nur noch künstlich versetzen konnten. Was sie hemmte, ließen sie wegschwimmen auf hundertfünfzig Gramm Doppelkorn. Sie vergaßen den kommenden Tag, den ausstehenden Ärger wegen eines versäumten Termins, die unausgesprochenen Gedanken, die Kinderschuhe, die es wieder einmal nicht in der richtigen Größe geben würde, die Schlange, die sie morgens auf der Post erwartete, sie vergaßen sogar die tägliche Wut über den zugigen kalkweißen Großraum, in dem es schepperte, schwätzte, klapperte. Sie spülten ihre Seelen vierzigprozentig, bis sie arglos waren vor Vergeßlichkeit.
Man einigte sich, das Gelage in die Wohnung von Hans Schütz zu verlegen. Hans Schütz’ Frau ist Schauspielerin an einem Provinztheater und selten zu Hause. Hans behauptet, wenn überhaupt, könne er nur so verheiratet sein, und ein Berliner Engagement für seine Frau wäre die sichere Scheidung.
Zwanzig Minuten Fußweg bis zur Wohnung von Hans Schütz.
»Da werden die wenigstens wieder nüchtern«, sagt Hans, der seit einem einschlägigen Leberleiden kaum noch trinkt, und schiebt mir den Mantel über die Arme. Ich lasse mir nicht gern in den Mantel helfen. Die meisten Männer zwingen mich dabei zu gymnastischen Übungen, indem sie die Ärmel in Kopfhöhe halten.
Auf der Straße ist es still, die Luft kalt und feucht, für die Nacht ist Schnee angesagt. Wir laufen hintereinander auf dem schmalen Bürgersteig, von dem die parkenden Autos, die mit den rechten Rädern auf dem Fußweg stehen, nur einen halbmeterbreiten Pfad gelassen haben. Ulrike Kuwiak bleibt plötzlich stehen, so daß ich ihr in die Hacken trete, sie legt den Kopf in den Nacken, blickt sehnsüchtig in den Himmel, an dem nicht ein einziger Stern zu sehen ist. »Ich liebe solche Winternächte«, sagt sie, »da sieht man, wie vergänglich alles ist.« Sie seufzt und geht weiter.
Hans Schütz putzt im Gehen seine Brillengläser, prüft sie im Licht einer Straßenlaterne und fragt, ohne mich dabei anzusehn: »Bei welcher Variante von B. bist du denn?«
»Bei der einzigen.«
»Das ist vernünftig.«
»Ich schreibe aber die unvernünftige.«
Hans Schütz schweigt. Ein vorüberfahrendes Auto beleuchtet für einige Sekunden sein Gesicht. Er kaut nachdenklich auf seiner Pfeife herum, seine Haut ist leicht gerötet von der feuchten Luft. Den Kragen der derben, unmodernen Lederjacke hochgeschlagen, den Hals eingezogen, sieht er aus wie eine Schildkröte in ihrem Panzer. »Ging es dabei nicht um eine Ratsentscheidung?« fragt er.
»Na und?«
»Hoffentlich übernimmst du dich nicht.«
»Ich muß es eben versuchen. Vielleicht ist so ein Beitrag das eine winzige Gramm, das fehlt, um die Waagschale zum Sinken zu bringen. Stell dir vor, das steht in der Zeitung: In B. gibt es zwar ein neues Kraftwerk, aber das alte wird nicht stillgelegt. Fünfmal häufiger Bronchitis als anderswo, Bäume, die über Nacht ihre Blüte verlieren, als wäre ein böser Zauber über sie hinweggefegt oder eben eine Windladung voll Schwefeldioxyd, ein Kraftwerk, in dem das Wort Sicherheit nicht erwähnt werden darf, aber es wird nicht stillgelegt. Und das lesen zwei Millionen Leute, das muß doch etwas bewirken.«
»Vielleicht«, sagt Hans Schütz. »Aber sie werden es nicht lesen, weil es nicht in der Zeitung stehen wird.«
»Dann eben nicht. Aber das ist nicht meine Entscheidung. Ich schreibe, was ich gefunden habe. Dann hätte Luise mich nicht nach B. schicken dürfen. Ich kann nicht über eine Stadt schreiben und das Wichtigste verschweigen. Das Wichtigste an B. ist das neue Kraftwerk und der Dreck vom alten.«
Schütz zeigt sich von meiner Konsequenz wenig beeindruckt.
»Du kennst den Laden lange genug, um dir den Ärger auszurechnen, den es geben kann.«
»Kann, nicht muß.«
»Du bist ein unverbesserlicher Optimist«, sagt Schütz. Er legt seinen Arm um meine Schulter. »Frierst du?« fragt er.
»Ein bißchen.«
Am Bahnhof kaufen wir Schnaps und Zigaretten. Ulrike besteht auf gesalzenen Erdnüssen.
Das Zimmer, in das Hans uns führt, ist warm und verblüffend ordentlich. Allerdings findet sich darin auch kaum eine Möglichkeit, Unordnung zu schaffen. In dem großen Raum nichts außer wandhohen Bücherregalen, einem etwa zwei Meter langen ovalen Tisch, dessen Höhe den sechs dicken, uralten Ledersesseln und
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