Flugasche
sich neue Eigenschaften, die ihm Lob und Anerkennung einbringen. Er wird vernünftig, bedächtig, ordentlich, geschäftig. Anfangs zuckt sein mißhandelter Charakter noch unter den Zwängen, aber langsam stirbt er ab, wagt sich nur noch in den Träumen hervor. Aber am Tag trägt unser armer gebremster Mensch einen Einheitscharakter, ein schön gemäßigtes, einsichtiges Wesen, bis er eines Tages seine ursprüngliche Art vergessen hat oder schreit vor Schmerz oder stirbt.
Noch vierzig oder fünfzig solcher Jahre, Luise, und die Menschen langweilen sich an sich selbst zu Tode. Dann sind die letzten Aufsässigen ausgestorben, und niemand wird die Kinder mehr ermutigen, mit der Welt zu spielen. Sie werden vom ersten Tag ihres Lebens an den knöchernen Ernst dieses Lebens kennenlernen. Ihre Lust wird getilgt durch maßvolle Regelung des Essens, des Spiels, des Lernens. Sie lernen Vernunft, ohne je unvernünftig gewesen zu sein. Armselige kretinöse Geschöpfe werden heranwachsen, und die Schöpferischen unter ihnen werden eine unbestimmte Trauer empfinden und eine Sehnsucht nach Lebendigem. Und wehe, sie finden es in sich selbst. Verstoßene und verlachte Außenseiter werden sie sein. Verrückte, Spinner, Unverbesserliche. Du bist zu lebendig, wird man so einem sagen als schlimmsten Vorwurf. Ich denke nur, unsere Natur ist stärker als jedes noch so perfekte System der Nivellierung und bäumt sich auf, wenn sie zu tief gebeugt wird.«
Luise hat mir die ganze Zeit still zugehört, ohne ihre blauen erschrockenen Kinderaugen in dem faltigen Gesicht auch nur einen Augenblick von mir abzuwenden.
»Meinst du das wirklich alles, was du eben gesagt hast?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht. Heute bestimmt.«
Luise sieht mich immer noch an, als wolle sie in mich hineinsehen. Still und nachdenklich, den Kopf leicht in die Hand gestützt, starrt sie auf einen Punkt über meinen Augen.
»Ich weiß nicht, ob du recht hast. Mit manchem sicher. Aber ich muß das anders sehen, verstehst du. Ich habe den Faschismus erlebt. Euer Grunderlebnis ist ein anderes, ich weiß. Ihr könnt die Vorteile des Sozialismus nicht an der Vergangenheit messen, die habt ihr nicht erlebt. Aber wenn du von einem perfekten System zur Nivellierung sprichst, muß ich dir sagen: das kenne ich unvergleichlich schlimmer. Für mich ist das, was wir hier haben, das Beste, was ich erlebt habe. Nicht, was ich mir vorstellen kann, weiß Gott nicht, aber was ich erlebt habe. Aber vielleicht müßt ihr das einfach als Ausgangspunkt für etwas Besseres betrachten. Vielleicht muß man die Gegenwart an der Zukunft messen, solange man keine Vergangenheit hat. Und es ist nichts als Sentimentalität des Alters, die Gegenwart als das Ziel zu deklarieren, weil einem viel Zukunft nicht mehr bleibt. Trotzdem, Josefa, es tut weh, wenn du mir sagst, du wirst um dein Leben betrogen, wenn du einfach vergißt, wieviel brutaler alle Generationen vor dir betrogen wurden.«
»Willst du ernstlich, daß wir unsere Vorzüge im Vergleich mit dem Faschismus beweisen? Als ihr angefangen habt 45, da hattet ihr doch ganz andere Ansprüche, oder? Als du plötzlich, antifaschistisch und sozialdemokratisch, für die Kommunisten Zeitung machen wolltest, haben sie dich nicht mit offenen Armen empfangen? Sie konnten dich gebrauchen, so wie du warst. Ich weiß das alles: Ihr hattet wenig zu essen, ihr habt bis nachts gearbeitet, und am Sonntag habt ihr auch noch Steine geklopft. Und warum bekommt ihr trotzdem alle leuchtende Augen, wenn ihr von dieser Zeit erzählt? Warum nicht, wenn ihr von 55 sprecht oder von 65? Weil irgendwann die Jahre begannen, einander zu gleichen, von einer Wahl zur anderen, von einem Parteitag zum nächsten Parteitag, Wettbewerbe, Jahrestage, Kampagnen. Aber die ersten drei Jahre, da kennt ihr jeden Tag, jedes Gesicht habt ihr behalten, das euch damals begegnet ist. Warum damals? Warum nicht später?«
»Hör mal«, sagt Luise, »wir müssen doch nicht über Dinge streiten, in denen wir einig sind.«
Sie hat ihren nüchternen Ton wiedergefunden. Sie steht auf, geht langsam um ihren Schreibtisch herum, öffnet ein Fenster. Sie fächelt sich die kalte Luft ins Gesicht, wohl um die Anstrengung anzuzeigen, die unser Gespräch ihr bereitet. Oder sie überlegt, was sie mir jetzt sagen will.
»Ich will dir gar nicht deine Gefühle ausreden. Die hast du nun mal, und das ist dein gutes Recht. Aber wie willst du mit solchen Gefühlen Journalist sein? Die könntest du dir in jedem
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