Flugasche
anderen Beruf eher leisten. Dann sei konsequent. Dann nutze die Entscheidungsfreiheit, die du hast. Geh in einen Betrieb, lern einen Beruf, von mir aus mach auch noch deinen Ingenieur. Intelligent genug bist du, jung genug auch. Kein Mensch zwingt dich, jeden Tag auch noch zu Papier zu bringen, was dir so zweifelhaft ist.«
Getroffen, Luise, mitten ins Herz. Was kann ich ihr darauf schon antworten?
Seit sechs Jahren fahre ich durch Stahlwerke, Spinnereien, Chemiebetriebe, Maschinenkombinate, ohne mich an die Gewalttätigkeit industrieller Arbeit gewöhnen zu können, ohne das Entsetzen zu verlieren, das mich beim Anblick der Verkrüppelungen packt, die Arbeit den Menschen noch antut. Geschundene Wirbelsäulen, zerstandene Beine, taube Ohren, Auswüchse an den Knochen. Ganz zu schweigen von den unsichtbaren Deformationen durch ewiges und einziges Signal an das Gehirn. Griff nach links mit linker Hand, Druck nach unten mit rechter Hand, Griff nach links mit linker Hand, Druck nach unten mit rechter Hand. Acht Stunden am Tag, aus Notwehr abgestumpfte Sinne, unempfindlich geworden gegen Zeit und Versäumnis, nichts mehr als verdorrte Wurzeln toter Sehnsüchte; verratene Kinderträume, nur noch ein höhnisches Lächeln wert: »Ach Gott, Tänzerin wollt ich werden, na, was man sich eben so ausdenkt als Kind.« Und dann stanzt sie das dreitausendste oder viertausendste Loch in den Fetzen Leder, aus dem eine Tasche werden muß. Wenn sie aufs Klo will, muß sie den Springer rufen. Wenn sie zum Zahnarzt geht, muß sie die halbe Stunde nacharbeiten. Jeder Bürohintern darf sich während der Arbeitszeit zwei Stunden auf einen Friseurstuhl verpflanzen, ohne daß er zwei Stunden nachsitzen muß. Aber eine halbe Stunde stanzen, zwanzig oder dreißig Nieten in der Minute, sechshundert in einer halben Stunde, oder neunhundert, das lohnt sich. Um vier steht sie auf, um fünf gibt sie das Kind im Kindergarten ab, fünf Uhr fünfzehn beginnt die Schicht. Griff nach links mit linker Hand, Druck nach unten mit rechter Hand, Griff nach links mit linker Hand, Druck nach unten mit rechter Hand. Dazu wie ein Uhrwerk das Geräusch der Stanze, tack tack tack tack. Acht Stunden am Tag. Ich kann nicht, Luise, das kann ich nicht. Für mich wäre das ein langsamer, sehr langsamer Selbstmord. Vergessen, wer ich bin, acht Stunden am Tag Vergessen üben. Sehnsüchte auf den Misthaufen der Unmöglichkeiten werfen. Jeder Gedanke zerhackt vom Tacktacktack. Nieten zählen und stanzen. Vergessen, daß ich fliegen kann.
Luises Telefon klingelt. Sie nimmt den Hörer nicht ab.
»Warum bleibst du denn?« fragt sie noch einmal.
Das Telefon klingelt immer noch.
»Warum bleibt der Hase im Wald, wenn der Fuchs ihn jagt? Soll er doch ein Wassertier werden. Schöne Entscheidungsfreiheit, die du mir anbietest. Bitte, Genossin, wenn es dir nicht paßt bei uns, du kannst es gerne schlechter haben …«
»Da hast du’s nämlich!« Luise zielt auf mich mit ihrem Zeigefinger wie mit einer Pistole. »Du bist kein Hase, der ein Frosch werden soll, Josefa, so hübsch das auch klingt. So unmöglich ist mein Vorschlag nicht. Aber du willst nicht um vier Uhr früh aufstehen, du willst nicht acht Stunden an eine Maschine gekettet sein, du willst nicht auf deine tausend Mark verzichten. Du willst deine Privilegien behalten, und sei es nur das eine: eine Arbeit zu haben, die Spaß macht. Hör mal, der Marx hat schon gewußt, warum er auf das Proletariat gesetzt hat und um Himmels willen nicht auf die Intellektuellen. Du hast eben mehr zu verlieren als deine Ketten. Da erträgt man das bißchen Unfreiheit schon, zumindest leichter als den Verlust der Privilegien.«
Luise ist unerbittlich. Ich habe Kopfschmerzen, und mir ist schwindlig. Ich will mich nicht mit Luise streiten. Wird schon wieder, Josie, sagte meine Mutter immer, wenn ich Kummer hatte, streichelte mir den Kopf, und wenn es ganz schlimm war, kochte sie mir Götterspeise. Grüne mochte ich am liebsten. Ich möchte schlafen. Augen zu, Gesicht zur Wand und schlafen, vierzehn Stunden oder noch länger.
Ich höre, wie hinter meinem Rücken die Tür aufgeht. Jemand fragt, ob Luise mal fünf Minuten Zeit hätte.
»Später«, sagt Luise und lächelt verbindlich über meinen Kopf hinweg.
»Du bist ungerecht«, sage ich, als die Tür wieder geschlossen ist, »du tust so, als wäre ich der feigste und korrumpierteste Mensch weit und breit, nur weil ich mein Leben nicht am Fließband zerstanzen lassen will. Meinst du,
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